12 Auswärtige Politik. I. Buch.
haben wir dem Meere anvertraut und mit diesen Werten Wohl und Wehe vieler Mil-
lionen unserer Landsleute. Wenn wir nicht rechtzeitig für den Schutz dieses kostbaren
und unentbehrlichen nationalen Besitzes sorgten, waren wir der Gefahr ausgesetzt, eines
Tages wehrlos ansehen zu müssen, wie er uns genommen wurde. Oann aber wären
wir nicht etwa wirtschaftlich und politisch in das behagliche Dasein eines reinen Binnen-
staates zurückgesunken. Wir wären vielmehr in die Lage versetzt worden, einen beträcht-
lichen Teil unserer Millionenbevölkerung in der Heimat weder beschäftigen noch ernähren
zu können. Eine wirtschaftliche Krise wäre die Folge gewesen, eine Krise, die sich zu
einer nationalen Katastrophe auswachsen konnte.
Der Bau einer zum Schutze unserer überseeischen
Interessen ausreichenden Flotte war seit Ausgang der
80er Jahre des 19. Jahrhunderts eine Lebensfrage für die deutsche Nation geworden.
Daß Kaiser Wilhelm II. das erkannt und an die Erreichung dieses Zieles die ganze Macht
der Krone und die ganze Kraft der eigenen Individualität gesetzt hat, ist sein großes
geschichtliches Berdienst. Dieses Berdienst wird noch dadurch erhöht, daß das Oberhaupt
des Reichs für den Bau der deutschen Flotte in dem Augenblick eintrat, wo sich das deutsche
Volk über seine weitere Zukunft entscheiden mußte und wo nach menschlicher Berech-
nung die letzte Möglichkeit vorlag, für Deutschland den ihm notwendigen Seepanzer
zu schmieden. Die Flotte sollte gebaut werden unter Behauptung unserer Stellung
auf dem Kontinent, ohne Zusammenstoß mit England, dem wir zur See noch nichts
entgegenzusetzen hatten, aber unter voller Wahrung unserer nationalen Ehre und Würde.
Der damals noch recht erhebliche parlamentarische Widerstand war nur zu überwinden,
wenn die öffentliche Meinung einen nachhaltigen Druck auf das Parlament ausübte.
Die öffentliche Meinung ließ sich nur in Bewegung bringen, wenn gegenüber der im
ersten Zahrzehnt nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck in Deutschland herrschenden
unsicheren und mutlosen Stimmung das nationale Motir mit Entschiedenheit betont
und das nationale Bewußtsein wachgerufen wurde. Der OruckK, der seit dem Bruch
zwischen dem Träger der Kaiserkrone und dem gewaltigen Manne, der diese Krone aus
der Tiefe des Koffhäusers hervorgeholt hatte, auf dem deutschen Gemüt lastete, konnte
nur überwunden werden, wenn dem deutschen Volk, dem es gerade damals an einheit-
lichen Hoffnungen und Forderungen fehlte, von seinem Kaiser ein neues Ziel gesteckt
und ihm der Platz an der Sonne gezeigt wurde, auf den es ein Recht hatte und dem
es zustreben mußte. Das patriotische Empfinden sollte aber auch nicht überschäumend
und in nicht wieder gut zu machender Weise unsere Beziehungen zu England stören,
dem gegenüber unsere Defensivstärke zur See noch für Jahre hinaus eine ganz ungenü-
gende war und vor dem wir 1897, wie sich in jenem Jahr ein kompetenter Beurteiler
einmal ausdrückte, zur See dalagen wie Butter vor dem Messer. Den Bau einer aus-
reichenden Flotte zu ermöglichen, war die nächstliegende und große Aufgabe der nach-
bismarckischen deutschen Politik, eine Aufgabe, vor die auch ich mich in erster Linie ge-
stellt sah, als ich am 28. JZuni 1897 in Kiel, auf der „Hohenzollern“, am gleichen Tage
und an derselben Stelle, wo ich 12 Jahre später um meine Entlassung bat, von
Bau der Kriegsflotte.
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