32 Staats- und Verwaltungerecht. II. Buch.
sätzliche Beränderung nur dadurch erfahren, daß durch preußische Staatsweisheit und
preußische Waffen das Deutsche Reich geschaffen wurde. Preußen ist der Grund-
und Eckstein des Deutschen Reiches; von der Gesundheit und Kraft Preußens
hängt allein die Gesundheit und Kraft des Deutschen Reiches ab.
Eine formelle Abänderung hat die preußische Verfassung bei Aufrichtung des deut-
schen Gesamtstaates nicht gefunden; daß durch die Reichsverfassung eine ganze Anzahl
von Artikeln der preußischen Verfassung außer Kraft getreten und durch Vorschriften
der Reichsverfassung ersetzt sind, steht staatsrechtlich außer Zweifel.
Anderweitige Abänderungen der Verfassungsurkunde Preu-
ßens im letzten Bierteljahrhundert sind nur wenige er-
folgt. Die ursprüngliche Zahl der Mitglieder des Ab-
geordnetenhauses von 3550 wurde gemäß wiederholter Anderung des Art. 69 Vl., be-
sonders infolge der großen Gebietserweiterung von 1866, 1906 auf 4433 festgestellt.
Durch dasselbe Gesetz wurde eine Reihe von Wahlbezirken verändert und die Wahlorte
mehrfach neu bestimmt. Ferner wurde durch ein zweites Gesetz vom gleichen Datum
für Gemeinden, deren Zidvilbevölkerung mindestens 50 000 beträgt, die Abstimmung
bei der Wahl der Wahlmänmer in einer nach Anfangs- und Endtermin festzusetzenden
Abstimmungefrist (Fristwahl im Gegensatz zur Terminwahl in gemeinschaftlicher Ver-
sammlung der Urwähler zu bestimmter Stunde) festgesetzt; jedoch kann der Minister
des Innern auf Antrag des Gemeindevorstandes auch für solche Gemeinden die Bei-
behaltung der bisherigen Terminwahl oder auch für Gemeinden mit geringerer Be-
völkerungsziffer Fristwahl anordnen. Ferner kann der Minister des Innern bestimmen,
daß in Wahlbezirken mit mehr als 500 Wahlmännern die Wahl der Abgeordneten in
Gruppen der Wahlmänner oder daß auch diese Wahl in der Form der Fristwahl vorzu-
nehmen ist. Die für das Wahlgeschäft erforderlichen Ehrenämter (Wahlvorsteher, Pro-
tokollführer, Beisitzer) müssen von den Urwählern bzw. Wahlmännern übernommen
werden bei Strafe bis 300 Mark, es sei denn, daß einer der im Gesetz bezeichneten Ab-
lehnungsgründe vorhanden ist. —
Die — an sich recht geringfügigen — juristischen Streitfragen über die Regelung des
Schulwesens durch Gesetz — ob nur ein Gesamtgesetz oder auch Einzelgesetze zulässig
seien — haben im Jahre 1906 vor Erlaß des großen Volksschulunterhaltungegesetzes
(. unten) zur Aufhebung der Artikel 112 und Abänderung des Art. 26 geführt. Dadurch
wurde klargestellt, daß auch Spezialgesetze auf dem Gebiete des Unterrichtswesens zu-
lässig seien, und daß es „bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung“ bei dem geltenden
Rechte zu verbleiben habe. Selbstverständliche Dinge wurden in eine juristisch zweifels-
freie Form gekleidet.
1. Abänderungen der
Verfassungsurkunde.
2. Wahlr echt. Das Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhause bildete im Jahre
1910 den Gegenstand erregtester öffentlicher Erörterung und heftigster
parlamentarischer Kämpfe. Ein gesetzgeberischer Abschluß wurde nicht erreicht. Die über
den Gegenstand in die Verfassuug selbst aufgenommenen Vorschriften (Art. 70—72 sind
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