Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
64 Die Selbstverwaltung. II. Buch. 
  
empfundenen allmählich im höheren Sinne des Allgemeinwohls unerträgliche Verhält- 
nisse entstehen sollen. 
So geboten aber solche Forderung erscheint, so wenig ist der Staat als Vertreter 
der Allgemeininteressen leider zur Anerkennung ihrer Berechtigung vielfach bereit ge- 
wesen. Auch in dieser Frage hat der unserem Volkstume in so vielen Beziehungen nach- 
teilige unselige Gegensatz von „Stadt und Land“ zu Auffassungen und Entscheidungen 
geführt, die der Bedeutung der Sache in keiner Weise gerecht wurden. Denn, wie oben 
bereits erwähnt, hat namentlich die außerordentlich beschleunigte Entwickelung der 
Großstädte zu derartigen Gegensätzen mit den an sie angrenzenden Gemeinden und zu- 
meist auch Landkreisen geführt. Und der die heutige Verwaltung und Gesetzgebung 
leider vielfach beherrschende politische Gesichtspunkt, daß einem allzu beschleunigten An- 
wachsen der großen Massenanhäufungen in den Städten nach Möglichkeit entgegen- 
zutreten sei, es mindestens nicht gefördert werden dürfe, hat in den letzten zwei ZJahr- 
zehnten manche, gerade vom Standpunkte des Staatsganzen aus unhaltbaren Zustände 
verlängert — und verschlimmert. Der zu einem immer unentwirrbareren Knäuel aus- 
gewachsene allgemeine Interessen-Gegensatz des gewaltigen Selbstwerwaltungszentrums 
Groß-Berlin ist die deutlichste und zugleich übelste Frucht solcher Auffassungen. 
Und doch erscheint es so natürlich wie 
Lösung solcher Interessengegensätze. geboten, dah die Lösung solcher 
Schwierigkeiten dem Sinn und Geist der Selbstverwaltung selbst entnommen 
werden sollte. Denn Selbstverwaltung anzuerkennen und sie mit ihrem Schutze zu um- 
geben, hat die Allgemeinheit—der Staat—nurda undinsoweit ein Interesse, wosolche auch 
wirklich geübt wird und geübt werden kann. Den Schein einer solchen fortdauern zu lassen, 
auch wo sie nicht mehr, oder doch ohne die von ihr zu verlangende volle Beherrschung 
aller ihr anvertrauten Aufgaben, oft nur der Form nach besteht, kann der Allgemeinheit 
ebensowenig förderlich sein, wie das Bestehen unklarer, innerlich unwahr gewordener 
Verhältnisse überhaupt. Wo deshalb der Verwaltungseinfluß eines Verwaltungs- 
körpers auf benachbarte andere so groß wird, daß in den Letzteren die Ergebnisse der 
eigenen Selbstverwaltungsarbeit mehr und mehr hinter jenen überragenderen zurück- 
bleiben, ja wohl bis zur Bedeutungslosigkeit verblassen, da liegt es durchaus im wohl- 
begründeten Interesse des Allgemeinwohls, an der Klarheit und Wahrheit aller, auch 
der öffentlichrechtlichen Verhältnisse, daß der allein nicht mehr lebensfähige Verwal- 
tungskörper oder -Körperteil als selbständiger zu bestehen aufhört und demjenigen Ver- 
waltungskörper auch rechtlich eingefügt — eingemeindet — wird, der ihn durch seine 
lebendigere Kraft tätsächlich bereits zu einem Teile der eigenen Verwaltung gemacht 
hat. Die Feststellung, wann der Zeitpunkt zu solchem Schritte gekommen ist, macht er- 
fabrungsgemäß keinerlei besondere Schwierigkeiten; sie hat sich natürlich auf den Be- 
weis bestimmter Tatsachen zu gründen. Selbstverständlich ist es auch in erster Linie er- 
wünscht, daß solche Regelung von Selbstverwaltungs-Gegensätzen durch Eingemein- 
dungen im Wege gegenseitiger Einigung erfolgt. Wo solche aber nicht erreichbar, sollte 
sie der Staat — und zwar lieber so früh, denn so spät wie möglich — mit seinen Macht- 
  
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