Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Die Reichsversicherung. 73 
  
eine rechtliche Befugnis unter gesetzlich genau festgesetzten Bedingungen gewährt, und 
daß sie nicht nur ein Mittel darstellt, wirtschaftlichen Nöten abzuhelfen, sondern die 
Einzelnen an den Aufgaben des Staates, ja an seinem Bestehen unmittelbar zu inter- 
essieren. Ze größer die Zahl der der sozialen Versicherung unterworfenen Personen 
ist, desto mehr sind diese mit ihren allerelementarsten Lebensbedingungen an den Staat 
gebunden; ihre Interessen sind mit ihm in der fühlbarsten Weise verflochten. Es 
ist einer ganz einfachen, die Zusammenhänge des wirtschaftlichen und staatlichen 
Lebens erkennenden Auffassung ganz offensichtlich, daß nur ein mächtiger und geord- 
neter Staat die wirtschaftliche Existenz, den Frieden täglicher Berufsarbeit sichern kann. 
Aber die politisch vielfach verhetzten Massen haben für diese Selbstverständlichkeit leider 
oft genug keinen Blick. Anders aber, wenn sie in Krankheit geraten, unter dem Einfluß 
eines Unfalls stehen oder invalide werden. Hier zeigt es sich dann auf das allerklarste, 
daß ohne die mächtig schützende Organisation des Staates kein Heil zu erwarten, keine 
irgendwie geartete Fürsorge — von privater abgesehen — zu erwarten ist, zumal die 
Unterstützung durch Berufsorganisationen, insbesondere die Gewerkschaften, lediglich 
für die im engeren Sinne organisierten #Arbeiter und auch für diese nur in unzureichender 
Weise in Frage kommt. 
Entwicklung der Versicherungs- Dem bedeutsamen Anfang der Sozialver- 
gesetzgebung. sicherung in den Zahren 1883 —1889, in denen 
das Krankenversicherungsgesetz, die Unfallver- 
sicherungsgesetze, das Alters- und Invaliditätsgesetz geschaffen worden sind, folgte schon 
früh eine Reihe von Novellen, die eine Ausdehnung der Wohltaten und eine Anpassung an 
neue Verhältnisse zum Zwecke hatten. Ein Erlaß Kaiser Wilhelms II. vom 4. Februar 1890 
verlangte ausdrücklich den weiteren Ausbau der Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung und 
bot den Anlaß zu den Novellen des Krankenversicherungerechts der Zahre 1892, 1900 und 
1903. ODer Kreis der Versicherten wird erheblich erweitert, die Leistungen werden bedeutend 
erhöht. Im Zahre 1900 wird das Unfallversicherungsrecht durch fünf Gesetze neu ge- 
regelt, und im Zahre 1899 tritt das Invalidenversicherungsgesetz an die Stelle des Alters- 
und Invaliditätsgesetzes vom Jahre 1889. Eine unendlich reichhaltige Judikatur, eine viel- 
verzweigte, zu zahlreichen Streitfragen führende Verwaltung, der es nicht immer leicht ge- 
worden ist, auf Grund des bestehenden Rechts allen Notwendigkeiten gerecht zu werden, 
hat sich im Laufe der Zeit angehäuft. Immer mehr Kreise drängten sich zur staatlichen 
Versicherung, wollten, trotz aller mehr oder minder berechtigten Kritik, teilhaben an dem, 
was das Reich durch seine Gesetze und seine Verwaltung zu bieten in der Lage war. 
  
  
Es entstand eine sehr tiefgehende Reform- 
bewegung, die zunächst auf eine Verein- 
heitlichung aller Zweige der Versicherung 
gerichtet war. Wiewohl nun gewisse Verwandtschaften zwischen den Anlässen des Ver- 
sicherungsbedarfs nicht geleugnet werden können, da die mit oder ohne Unfall 
entstandene Krankheit für den tätigen Arbeiter von annähernd gleicher Wirkung sein 
Reformbewegung. Auf Vereinheit- 
lichung gerichtete Bestrebungen. 
  
  
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