II. Buch. Die Reichsversicherung. 79
Kassen, ganz in die Macht der Arztegewerkschaft zu gelangen, die Bedingungen diktiert
zu erhalten und die starke Steigerung der #rztehonorare zuungunsten der Kassenfinanzen
mit in Kauf nehmen zu müssen. Sie sind im großen ganzen mehr für das Kassenarzt-
spstem, bestreiten auch eine standesunwürdige Abhängigkeit der Trzte und die Stati-
stiken weisen zum Teil hohe Jahreseinnahmen der Arzte nach.
Die Reichsversicherungsordnung hat weder das System der freien Arztwahl noch
das Kassenarztspstem zu dem alleinherrschenden erhoben. Sie läßt den Kassen vielmehr
freie Wahl. Freilich ist diese nur in beschränktem Maße vorhanden, weil in dem Kampfe
mit der Arzteorganisation mit gegebenen Bedingungen allgemeiner und lokaler Art ge-
rechnet werden muß. Ein Urteil zugunsten des einen oder anderen Systems als eines
ausschließlichen abzugeben, liegt kein Anlaß vor. Ze nach den besonderen örtlichen,
finanziellen Verhältnissen wird der Abschluß von Kassenarztverträgen oder die Ein-
führung der beschränkt freien Arztwahl angebracht erscheinen. Auf jeden Fall ist es
erforderlich, daß die Aufsichtsbehörden eine standesunwürdige Behandlung der Arzte,
sei es in persönlicher, sei es in wirtschaftlicher Beziehung, zu verhindern suchen; an den
gesetzlichen Mitteln hierzu wird es nicht fehlen. Im ganzen ist der Streit tief bedauer-
lich, wird aber, freilich nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten, mit der Zeit in positi-
vem Sinne gelöst werden müssen, wenn die Arbeiterversicherung überhaupt funktio-
nieren soll. Immerhin ist schon in dem jetzigen Rechte der Begriff der ärztlichen Be-
handlung festgelegt und dafür nach Möglichkeit Vorsorge getroffen, daß weder auf seiten
der Kasse die ärztliche Versorgung vernachlässigt, noch auf seiten der Arzte durch grund-
sätzliche Verweigerung ihrer Tätigkeit die sozialpolitische Arbeit verhindert werde. Wenn
nämlich bei einer Krankenkasse die ärztliche Versorgung dadurch ernstlich gefährdet wird,
daß diese Kasse keinen Vertrag zu angemessenen Bedingungen mit einer ausreichenden
Zahl von Arzten schließen kann, oder daß die Arzte den Vertrag nicht einhalten, so er-
mächtigt das Oberversicherungsamt die Kasse, auf ihren Antrag widerruflich statt der
Krankenpflege oder sonst erforderlichen ärztlichen Behandlung eine bare Leistung bis zu
zwei Dritteln des Ourchschnittsbetrages ihres gesetzlichen Krankengeldes zu gewähren.
Das Oberversicherungsamt kann zugleich bestimmen, wie der Zustand dessen, der die
Leistungen erhalten soll, anders als durch ärztliche Bescheinigungen nachgewiesen werden
darf; daß die Kasse ihre Leistungen so lange einstellen oder zurückbehalten darf, bis ein
ausreichender Nachweis erbracht ist; daß die Leistungspflicht der Kasse erlischt, wenn
binnen einem Jahre nach Fälligkeit des Anspruchs kein ausreichender Nachweis erbracht
ist. Genügt andererseits bei einer Krankenkasse die ärztliche Behandlung oder Kranken-
hauspflege nicht den berechtigten Anforderungen der Erkrankten, so kann das Ober-
versicherungsamt nach Anhörung der Kasse jederzeit anordnen, daß diese Leistungen
noch durch andere Arzte oder Krankenhäuser zu gewähren sind. Diese Anordnung soll
nur auf so lange getroffen werden, wie es ihr Zweck erfordert und bedarf, wenn sie über
ein Jahr gelten soll, der Genehmigung der Ministerialinstanz. Wird die Anordnung
nicht in der gesetzlichen Frist befolgt, so kann das Oberversicherungsamt selbst das Er-
forderliche auf Kosten der Kasse veranlassen. Einer der vielen Beschwerdepunkte der
Axzte war, daß bei dem Kassenarztsystem eine Begrenzung der Versicherten in der Aus-
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