Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Die Reichsversicherung. 93 
  
willkürlich herbeigeführt werden: die Sachlage selbst wird kaum geändert werden können. 
Daß hohe Leistungen gewährt werden, wird von anderer Seite gerade auf diese sorg- 
fältige Auswahl der Arbeitskräfte, auf das Abstoßen der Schwächeren zurückgeführt. 
Auch darin liegt zweifellos etwas Wahres. Trotz alledem sprechen auch hier Zahlen eine 
deutliche Sprache. Während die Ortskrankenkassen im Zahre 1911 bei einem Mitglieder- 
stande von 7 217 908 Personen an Krankheitskosten aufgebracht haben 188 815 740 M., 
haben die Betriebskrankenkassen bei einem Mitgliederstande von 3 396 000 aufgebracht 
in demselben Jahre 113 255 766 M., obwohl nach ihrer Mitgliederzahl nur eine Leistung 
von ungefähr 90 Mill. Mark zu erwarten gewesen wäre. Die Reichsversicherungsordnung 
hat deshalb den vielfachen Bestrebungen auf Aufhebung der Betriebskrankenkassen keine 
Folge gegeben, immerhin jedoch durch ihre gesetzlichen Bestimmungen dafür Sorge ge- 
tragen, daß berechtigte Ansprüche der Sozialversicherung erfüllt werden. So werden 
bestehende Betriebskrankenkassen nur dann aufrechterhalten, wenn sie mindestens 100, 
bei Krankenkassen für landwirtschaftliche oder Binnenschiffahrtsbetriebe mindestens 50 Mit- 
glieder haben, ihre satzungsmäßigen Leistungen jenen der maßgebenden Ortskrankenkasse 
mindestens gleichwertig sind oder binnen 6 Monaten gemacht werden und ihre Leistungs- 
fähigkeit für die Dauer sicher ist. Aeu errichtet werden darf eine Betriebskrankenkasse 
nur, wenn sie den Bestand oder die Leistungsfähigkeit vorhandener Ortskrankenkassen 
und Landkrankenkassen nicht gefährdet; dabei gilt eine Kasse nicht als gefährdet, wenn 
sie nach Errichtung einer Betriebskrankenkasse mehr als 1000 Mitglieder behält. Wie 
bei der Zulassung einer bestehenden, ist auch bei der Neuerrichtung einer noch nicht vor- 
handenen Betriebskrankenkasse weiter vorausgesetzt, daß die satzungsmäßigen Leistungen 
denen der maßgebenden Krankenkasse mindestens gleichwertig sind und ihre Leistungs- 
fähigkeit für die Dauer gesichert ist. Soweit man zurzeit die Entwicklung übersehen 
kann, wird die Form der Betriebskrankenkasse keineswegs auf den Aussterbeetat ge- 
setzt sein. Die verhältnismäßig geringe Mitgliederzahl, die als Voraussetzung bestimmt 
ist, wird eher den Neugründungen förderlich als nachteilig erscheinen. Andererseits 
konnte man auch schon deshalb nicht eine allzuhohe Mitgliederziffer als Bedingung stellen, 
weil sonst nur den ganz großen Fabrikbetrieben, etwa in der Schwerindustrie und der 
chemischen Industrie, der Vorzug eingeräumt worden wäre; man hätte damit gerade 
den mittleren Fabrikantenstand hart getroffen und die volkswirtschaftliche Tendenz 
auf eine Zentralisation aller Betriebe auch von diesem sozialpolitischen Gesichtspunkte 
aus ungewollt beschleunigt. 
Oarüber, ob auch das Handwerk im 
engeren Sinne den Anspruch stellen 
kann, besondere Krankenkassen zu errichten, war man bei der Entstehung der Reichsversiche- 
rungsordnung vielfach verschiedener Meinung. Das Gesetz hat die Beibehaltung der 
Inmungskrankenkassen ausgesprochen, aber gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen. Biel- 
fach ist nämlich der Berdacht ausgesprochen worden, der nicht ohne weiteres als unbe- 
gründet bezeichnet werden kann, daß die Innungskrankenkassen zuweilen nur deshalb er- 
richtet würden, um die höhere Beitragsleistung an die sonst zuständige Ortskrankenkasse 
Innungskrankenkassen und Handwerk. 
  
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