Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Finanzen und Steuern. 109 
  
Der lange wogende Streit, der der Sache selbst nicht förderlich war, ist allmählich der besse- 
ren Einsicht gewichen, daß nach dem Wortlaute der Verfassung an sich alle Arten von 
Steuern dem Zupgriff des Reiches offenstehen. Die Steuergesetzgebung der letzten JFahre 
hat dieser Anschauung auch praktische Geltung verschafft, zuerst durch Einführung der 
Erbschaftssteuer im Zahre 1906, die die Wissenschaft wenigstens übereinstimmend als 
direkte Steuer bezeichnet, dann der Wertzuwachssteuer von 1911, und vor allem der 
erst kürzlich bewilligten Besitzsteuer und des Wehrbeitrags. Daß das Reich tatsächlich bis 
zur Finanzreform von 1906 nur Verbrauchs- und Verkehrssteuern hatte, hat seine guten 
Gründe, von denen nachher die Rede sein wird. 
Die Zoll- und Steuer- Gaie Etuerauerusung Neiches bolo nach 
seiner Gründung war also in keiner Weise den An- 
teformen von 1879—SI. forderungen gewachsen, welche die rasch sich erweitern- 
den Aufgaben stellten. Die Zölle waren um 1878 infolge des freihändlerischen Tarifs auf 
einen Mindestbetrag von 100 Mill. M. gesunken, die Tabaksteuer brachte kaum 1 Million, 
die Rübenzuckersteuer zwischen 40 und 50, die Salzsteuer etwa 33, die Branntweinsteuer 
35, die Brausteuer 15, die Wechselstempelsteuer 6 Mill. M. Die ganze Steuereinnahme 
betrug damals etwa 240 Mill. M. Zu ihrer Ergänzung mußten die Matrikularbeiträge in 
der beträchtlichen Höhe von gegen 90 Millionen herangezogen werden, und schon meldeten 
sich die ersten Anleihen, mittels deren man 1876—78 131 Millionen deckte. Bei dem Wachsen 
der Ausgaben drohte eine neue Erhöhung der Matrikularbeiträge, die schon aus politischen 
Sründen vermieden werden mußte. Die wirtschaftliche Depression ließ eine Abkehr vom 
Freihandelsspstem angezeigt erscheinen, die auch den Finanzen zugute kommen sollte. 
Oaneben sollten noch andere Einnahmequellen eröffnet, Bier, Tabak und Branntwein 
stärker herangezogen, eine Spielkartensteuer und Stempelabgabe eingeführt werden. 
Auf die Zoll- und Finanzreform von 1875 setzte die Reichsregierung große Hoffnun- 
gen: durch sie sollte nicht nur der Bedarf des Reiches ausreichend befriedigt, sondern auch 
die Landesfinanzen dotiert werden. Aber der große Finanzplan kam nur in stark ver- 
stümmelter Gestalt zur Ausführung. Zwar der Zolltarif erlangte in der Hauptsache die 
Zustimmung des Reichstages, auch der Spielkartenstempel wurde angenommen, die 
Brausteuererhöhung jedoch fiel ganz und Tabakzoll- und -steuer wurden gegenüber den 
Vorschlägen wesentlich erniedrigt. Da aber die Ausgaben des Reiches weiter wuchsen, 
so mußte man schon 1880 und 1881 auf weitere Vermehrung der Reichssteuern bedacht 
sein. Aber auch diesmal wurde nur der kleinere Teil der Anforderungen bewilligt. Die 
Tabakwertsteuer wurde 1881, das Tabaksmonopol 1882, die Erhöhung der Biersteuer 
1880 und 1881 abgelehnt, nur eine niedrige Steuer auf Aktien, Nenten- und Schuld- 
verschreibungen, Schlußnoten und Lotterielose fand Annahme. Und zunächst ging es so 
auch; denn allmählich mit der Besserung der Wirtschaftsverhältnisse und infolge der Er- 
höhung des Zolltarifs in den Zahren 1885 und 1887 stiegen die Einnahmen, so daß den 
Bundesstaaten erhebliche UÜberschüsse zugewiesen werden konnten. Freilich mußten da- 
neben seit 1879 durchschnittlich 45,8 Mill. M. Schulden im Jahr aufgenommen werden. 
Inzwischen waren aber die fortdauernden und einmaligen Ausgaben neuerdings 
  
  
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