Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Finanzen und Steuern. 117 
  
bestrebt, zu einer sorgfältigeren Scheidung der ordentlichen und außerordentlichen Aus- 
gaben zu gelangen, aber es fehlten die MWittel, gelegentlich auch die Kraft, der Erkenntnis 
gemäß zu verfahren. Erst im Fahre 1900 erwachte das Gewissen und die UÜberzeugung, 
daß es nicht so weitergehen könne. Damals ersuchte der Reichstag die NRegierung, 
Grundsätze darüber aufzustellen, welche Ausgaben aus Anleihemitteln gedeckt werden 
dürfen. Sie wurden genau für die Verwaltung des Reichsheeres, der Marine, der 
Eisenbahn- und Postverwaltung bezeichnet und waren geeignet, Ordnung anzubahnen. 
Man hat berechnet, daß, wenn diese Grundzüge seit Beginn der Verschuldung eingehal- 
ten worden wären, von den bis 1894 aufgenommenen 1740 Mill. M. Reichsanleihen 
865 Millionen aus laufenden Einnahmen zu decken gewesen wären. Wären die Uberwei- 
sungen der Jahre 1885—92 mit über 500 Mill. M., dann diejenigen von 1895—98 mit 
rund 60 Millionen dem Reiche verblieben, wäre rechtzeitig eine Einnahmemehrung 
seitens des Reichstags bewilligt worden und, was an Zinsen gezahlt werden mußte, 
den eigentlichen Ausgaben zugute gekommen, so hätte sich das Reich ohne allzu große 
Belastung der Steuerzahler bis Anfang dieses Fahrhunderts so ziemlich schuldenfrei 
balten können. Es wäre dann nicht notwendig gewesen, die ganze Last der Rüstungs- 
ausgaben von 1913 der Gegenwart aufzubürden. Aber auch nachdem die Grundsätze 
aufgestellt waren, wurde es zunächst nicht anders; denn man konnte sie nicht befolgen. 
Teils waren die Kriegsausgaben zu bestreiten, von denen oben die Rede war, teils waren 
bedeutende Ausgaben für Heer und Flotte, für die Eisenbahn- und Postverwaltung 
nötig, für die es gänzlich an Mitteln fehlte. Mußten doch in dieser Zeit für 141 Millionen 
Zuschußanleihen aufgebracht werden, um Oefizite im ordentlichen Etat zu decken. Im 
Zusammenhang mit der Finanzreform von 1906 sollte auch das Schuldenwesen gebessert 
werden; von 1908 ab sollte die Anleiheschuld mit mindestens 3/1% des jeweiligen Schuld- 
betrags getilgt werden. Aber bei dem lüäglichen finanziellen Ergebnis dieser Reform 
mußte diese Vorschrift auf dem Papier bleiben. Endlich ist ein neues Tilgungsgesetz 
im Zusammenhang mit der Finanzreform von 1909 ergangen. Harnach sollen die 
früheren Vorschriften über die Tilgung solcher Anleihen, die zu werbenden Zwecken 
eingegangen sind, in Kraft bleiben; zur Tilgung der bis 30. September 1909 begebenen 
sonstigen Anleihen ist jährlich mindestens 1% des an diesem Tage vorhandenen Schuld- 
kapitals zu verwenden; die Tilgung der vom 1. Oktober 1910 ab ausgenommenen Schul- 
den hat zu geschehen: bei Anleihen für werbende Zwecke mit mindestens 1,9% , im 
Übrigen mit mindestens 5% , in beiden Fällen unter Hinzurechnung der ersparten Zinsen. 
Da aber auch Abschreibungen vom Alnleihesoll und Anrechnung auf offene Kredite bis 
zur Höhe der zur Schuldentilgung zur Verfügung stehenden Beträge einer Tilgung 
gleich geachtet werden sollen, so ist bei der stets gegebenen Veranlassung zur Aufnahme 
neuer Schulden eine ergiebige Verminderung des Schuldenstandes kaum zu erhoffen. 
5. Abschließende Betrachtungen. An diese kurzen geschichtlichen Darlegungen, 
die unumgänglich sind, um ein Bild von den 
Finanzen und Steuern des Reiches in der Zeit von 1888 bis zur Gegenwart zu geben, 
sollen einige kritische Betrachtungen sich anschließen. 
  
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