Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. Auswärtige Politik. 25 
  
Unternehmungen außerhalb des europäischen Festlandes frei geworden ist. Der über- 
gang zur Weltpolitik bedeutet uns die Eröffnung neuer politischer Wege, die Erschließung 
neuer nationaler Aufgaben, aber kein Verlassen aller alten Wege, keinen grundstürzenden 
Wechsel unserer Aufgaben. Die neue Weltpolitik ist eine Erweiterung, nicht eine Ver- 
legung unseres politischen Betätigungsfeldes. 
Wir dürfen nie vergessen, daß die Konsolidierung unserer europäischen Großmacht- 
stellung es uns ermöglicht hat, die nationale Wirtschaft zur Weltwirtschaft, die kontinentale 
Politik zur Weltpolitik zu weiten. Die deutsche Weltpolitik ist auf die Erfolge unserer euro- 
päischen Politik gegründet. In dem Augenblick, in dem das feste Fundament der europäischen 
Machtstellung Deutschlands ins Wanken geriete, wäre auch der weltpolitische Aufbau nicht 
mehr haltbar. Es ist der Fall denkbar, daß ein weltpolitischer Mißerfolg unsere Stellung in 
Europa unberührt ließe, es ist aber der Fall undenkbar, daß eine empfindliche Einbuße 
an Macht und Geltung in Europa nicht eine entsprechende Erschütterung unserer welt- 
politischen Stellung zur Folge hätte. Nur auf der Basis europäüscher Politik können wir 
Weltpolitik treiben. Die Erhaltung unserer starken Position auf dem Festlande ist heute 
noch wie in der bismarckischen Zeit Anfang und Ende unserer nationalen Politik. Sind 
wir auch weltpolitisch unseren nationalen Bedürfnissen folgend über Bismarck binaus- 
gegangen, so werden wir doch stets die Grundsätze seiner europäischen Politik als den 
feften Boden unter unseren Füßen behaupten müssen. Die neue Zeit muß mit ihren 
Wurzeln in den Uberlieferungen der alten ruhen. Die Garantie für eine gesunde Ent- 
wicklung liegt auch hier in einem verständigen Ausgleich zwischen Altem und Neuem, 
zwischen Erhaltung und Fortschritt. Der Verzicht auf Weltpolitik wäre gleichbedeutend 
gewesen mit einem langsamen sicheren Verkümmern unserer nationalen Lebenskräfte. 
Eine Politik weltpolitischer Abenteuer ohne Rücksicht auf unsere alten europäischen 
Interessen wũrde vielleicht zunächst reizuoll und imponierend wirken, bald aber zu einer 
Krisis, wenn nicht zur Katastrophe in unserer Entwicklung führen. Die gesunden 
politischen Erfolge werden nicht viel anders wie die kaufmännischen gewonnen: in 
ruhiger Fahrt zwischen der Skplla ängstlicher Vorsicht und der Charpbdis wagehalsigen 
Spekulierens. ch bin seit dem Tage, wo ich die Geschäfte des Auswärtigen Amts über- 
nahm, fest davon überzeugt gewesen, daß es zu einem Zusammenstoß zwischen Deutsch- 
land und England, der für beide Länder, für Europa und für die Menschheit ein großes 
Unglück wäre, nicht kommen werde, wenn wir 1. uns eine Flotte bauten, die anzugreifen 
für jeden Gegner mit einem übermäßigen Nüsiko verbunden wäre, 2. darüber hinaus 
uns auf kein ziel- und maßloses Bauen und Rüsten einließen, auf kein Uberheizen unseres 
Marinekessels, 5. keiner Macht erlaubten, unserem Ansehen und unserer Würde zu nahe 
zu treten, 4. aber auch nichts zwischen uns und England setzten, was nicht wieder gut- 
zumachen gewesen wäre. Darum habe ich ungehörige und unser nationales Empfinden 
verletzende Angriffe immer zurückgewiesen, von welcher Seite sie auch kommen mochten, 
aber jeder Versuchung zu einer Einmischung in den Burenkrieg widerstanden, denn eine 
solche würde dem englischen Selbstgefühl eine Wunde geschlagen haben, die sich nicht 
wieder geschlossen hätte. 5. Wenn wir ruhige Nerven und kaltes Blut behielten, England 
weder brüskierten noch ihm nachliefen. 
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