Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
36 Das Strafrecht. ill. Buq. 
  
der Neuordnungen sowohl des Prozesses wie des materiellen Strafrechts. 
In beiden Richtungen ist das Ziel jetzt noch nicht erreicht, die später näher zu betrach- 
tende Strafprozeßreform stockt sogar zurzeit. Die Reform des materiellen Straf- 
rechts ist dagegen im Fluß und hat bedeutsame Schritte vorwärts getan. Auch sie ist 
jetzt noch bloß in der Vorbereitung. Es ist aber schon ein Erfolg, die Lösung einer so 
schwierigen und für das Volksleben wie für die Staatsordnung so wichtigen Aufgabe er- 
beblich gefördert zu haben. Denn die Geschichte fast aller solcher großen Gesetzgebungen 
zeigt einen langsamen, von Stufe zu Stufe fortschreitenden Werdegang. Gutes und Nütz- 
liches hat darum schon derjenige geschaffen, der diesen Werdegang hervorgerufen, be- 
einflußt und vorwärts gebracht hat, mag auch die Krönung des Werkes durch die Ver- 
abschiedung des Gesetzes noch ausstehen. Das gilt selbst für den unglücklichen Fall des 
Aichtzustandekommens, denn die Bewegung nach einem neuen Strafrecht wird nicht 
aufhören, und auch der, dem erst später dessen Verwirklichung gelingt, wird auf den 
Schultern derjenigen stehen, die jetzt vorgearbeitet haben. Endlich ist aber auch kein 
Anlaß zu der Besorgnis, daß die unter dem Schutze unseres jetzigen Kaisers begonnenen 
und rüstig fortgesetzten Arbeiten nicht in naher Zukunft zu einem glücklichen Abschluß 
führen sollten. 
Darum ist es am Platze, hier bei der Feststellung des während seiner Regierung 
Geleisteten auch dieser Reformarbeiten näher zu gedenken. 
Aachdem der Furistentag im September 1902 die Inangriffnahme von Vorarbeiten 
für eine allgemeine Revision des Strafgesetzbuchs einstimmig gefordert hatte, beschloß 
der damalige Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberbing, zunächst eine wissen- 
schaftliche Grundlage für eine solche Revision zu schaffen. Teils auf seine Anregung, 
teils aus eigenem Antrieb bildete sich ein Kreis von Rechtsgelehrten — und zwar fast 
ausschließlich von Universitätslehrern —, um in einem großen Sammelwerk das Material 
aus dem In- und Ausland zusammenzustellen, zu sichten, zu verarbeiten, kritisch zu be- 
leuchten und womöglich daran bestimmte gesetzgeberische Vorschläge zu knüpfen. So 
entstand von 1905 bis 1909 das 15 Bände umfassende Sammelwerk: „Vergleichende 
Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Vorarbeiten zur deutschen 
Strafrechtsreform“, Berlin bei Liebmann, welches eine erschöpfende Fülle von Material 
in sostematisch geordneten, vergleichend und kritisch vorgehenden Einzeldarstellungen ent- 
hält, wie sie in dieser Vollständigkeit und Ubersichtlichkeit wohl noch nie einem Gesetz- 
geber zur Vorbereitung und Erleichterung seiner Arbeit geboten worden ist. 
Während dieses große Werk noch in den ersten Stadien seines Er- 
scheinens war, hatte in Preußen im Justizministerium ein Wechsel 
stattgefunden. Dem neuen Zustizminister Dr. Beseler erschien das bisherige Vorgehen 
zu langsam; er hielt für notwendig, sogleich zur Aufstellung eines vorläufigen, für 
die Regierungen nicht bindenden Entwurfes zu schreiten, und zwar unter tunlichster 
Benutzung der inzwischen immer weiter erscheinenden „Vergleichenden Darstellung“. 
Unter Billigung des Kaisers und nach Zustimmung der Reichsjustizverwaltung und des 
schon damals zugezogenen Kgl. Bayerischen Zustizministers wurde so verfahren, und es 
Vorentwurf. 
  
292
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.