Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
42 Das Strafrecht. III. Buch. 
  
nur auf Grund besonderer gesetzlicher Bestimmung begründen. § 84 Abs. 1 BV. E. drückt 
dies so aus: " 
„Soweit besonders schwere Fälle auf die Bestimmung der Art oder der gesetz- 
lichen Grenzen der Strafe von Einfluß sind, ist dies im Gesetz) ausdrücklich vorgesehen.“ 
Diese verschiedene Behandlung ist kriminalpolitisch wohl begründet, denn in der 
Zulassung von Milderungen kann man grundsätzlich weiter gehen, mehr in die Hände 
des Richters legen, als in der Zulassung von Schärfungen. Auch bestehen nach dem B. E. 
noch erschwerende Umstände mit selbständig konstruiertem Tatbestande, ja sogar solche 
mit kasuistischer Formulierung, so daß die „besonders schweren“ Fälle mehr nur eine 
ergänzende Rolle spielen und da einzutreten haben, wo erfahrungsgemäß ein Bedürf- 
nis nach größerer Strenge für besonders geartete Fälle sich herausstellt, formulierte 
erschwerende Umstände jedoch entweder im Gesetz nicht vorgesehen sind oder auf den 
Fall nicht zutreffen. Auf diese Weise ermöglicht es z. B. der Vorentwurf, besonders 
erhebliche Diebstähle und Veruntreuungen (man denke z. B. an den Bankbeamten Bru- 
ning und an Millionenunterschlagungen untreuer Bankiers und Kassenbeamter) ohne 
Rücksicht auf das Vorliegen kasuistischer Erschwerungsgründe mit der wohlverdienten 
Zuchthausstrafe zu treffen und so eine schon lange empfundene Schwäche des bisherigen. 
Gesetzes zu beseitigen. Denn es ist absurd, daß dieses den Dieb, der eine Kleinig- 
keit durch Benutzung eines zufällig in seinem Besitz befindlichen passenden Schlüssels 
gestohlen hat, wenn mildernde Umstände nicht vorliegen, mit Zuchthaus bestraft, den 
untreuen Kassierer aber, der auf raffinierte Weise mit Millionen durchgegangen ist, nur 
mit Gefängnis bedroht. 
Der Schwerpunkt der wichtigen Neuerung liegt indessen nicht in den „besonders 
schweren“, sondern in den „besonders leichten“ Fällen, die endlich dem Strafrecht die 
erforderliche Elastizität und Anpassung an die Billigkeit bringen werden. Es ist schwer 
begreiflich, wie man gerade diesen großen Vorzug des Entwurfs von manchen Seiten 
hat verkennen und wie man von der Gefahr richterlicher Willkür und von übergroßen 
Anforderungen an die Tüchtigkeit der Richter hat sprechen können. Denn eine wohl 
erwogene, sorgfältig abgegrenzte Bestimmung des Begriffs ist im Entwurf da, die einen 
Mißbrauch ausschließt. Ob die Folgen der Tat unbedeutend sind, und der verbrecherische 
Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar erscheint, und ob 
dies beides bewirkt, daß die ordentliche Strafe des Gesetzes unbillig hart erscheint, kann 
jeder verständige und billig denkende Mensch beurteilen, und solche Menschen sind unsere 
Kichter, auch die Laienrichter. Es ist also nicht nur kein Mißbrauch zu besorgen, sondern 
durch den Vorschlag wird geradezu einem lange empfundenen Bedürfnisse genügt, das 
Recht mit der Billigkeit in Einklang zu bringen. Die Ermächtigung, in solchen besonders 
leichten Fällen von Strafe ganz abzusehen, die noch am ehesten Bedenken erregen könnte, 
ist vom Entwurf nur unter der Voraussetzung zugelassen, daß es bei den einzelnen Tat- 
beständen ausdrücklich gestattet ist, und dies ist im Besonderen Teil nur sparsam und bei 
dazu geeigneten ODelikten geschehen, z. B. bei der Beleidigung. Vor allem aber ist es 
geschehen bei den Ubertretungen, wo ein dringendes Bedürfnis besteht. Und hierin 
1) D. h. bei den einzelnen Tatbeständen. 
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