54 Der Strafprozeß. III. Buch.
leidenschaftlichen Parteikämpfen bevorstand. Das sind, wie der Reichstagsabgeordnete
Dr. Müller (Meiningen) in der Deutschen Zuristen-Zeitung 1912, S. 1530 mit Recht
bervorhebt, Zeiten, die für Zustizreformen, über die keinerlei Einigkeit besteht, verderb-
lich sind, und in denen die Antwort auf die Frage, welche gesetzgeberische Aufgaben
sich noch erledigen lassen, von der Wahltaktik diktiert wird.
Dazu kam die damalige politische Lage, die tiefe Kluft zwischen den Parteien und
der Mangel einer festgeschlossenen Majorität im Reichstage, auf die sich die Regierung
hätte stützen können. Zn der gesetzgebenden Regelung des Strafverfahrens ist, auch
wo es sich nicht um speziell politische Fragen handelt, vielfach ein Kompromiß zwischen
den beiden Anschauungen erforderlich, von welchen die eine vor allem die Sicherung,
daß der Unschuldige vor Strafe bewahrt bleibe, im Auge hat, die andere dagegen
auf das dringendste auch Garantien dafür verlangt, daß der Schuldige zur verdien-
ten Strafe gezogen werde. Es tut not, einem Gesetzgeber, der das Strafver-
fahren reformieren will, das zuzurufen, was nach der französischen Strafprozeßordnung
der Schwurgerichtsvorsitzende zwar in dem rhetorischen Pathos der Revolution, aber
in sachlich richtiger Zusammenfassung den Geschworenen vorhält und von ihnen be-
schwören läßt: „nicht zu verraten die IZnteressen des Angeklagten, noch die der mensch-
lichen Gesellschaft, die ihn anklagt“. Soweit sich bei Regelung des Strafverfahrens
zwischen der Regierung, die nach ihrer Aufgabe und Verantwortlichkeit besonders auf
die Sicherstellung einer wirksamen Verfolgung der Schuldigen bedacht sein muß, und
dem Parlament nach dieser Richtung ernste Meinungsverschiedenheiten erheben, muß,
wenn die Gesetzgebung nicht stillgestellt werden soll, eine Verständigung über diese
Meinungeverschiedenheiten zustande kommen. Wenn sich Kaiser Wilhelm I. Ende 1876,
als die deutsche Strafprozeßordnung zugleich mit der Zivilprozeß- und Konkursordnung
glücklich zum Abschluß gebracht war, dem Reichstag für die Bereitwilligkeit zu banken
verpflichtet fühlte, mit der dieser den verbündeten Regierungen entgegengekommen
sei, alle Meinungsverschiedenheiten im Wege der Verständigung unter sich und mit
den Regierungen ausgeglichen habe, so stand damals in den ersten Jahren nach der
deutschen Einigung der Reichsregierung im Reichstag eine stark geschlossene nationale
mit ihr zusammengehende Mojorität gegenüber. Hieran fehlte es leider, als 35 Zahre
später die lang geplante große Reform der StrPO. zum Abschluß gebracht werden sollte.
Und gefehlt hat es denn auch — nicht der Kommission, wohl aber dem Plenum des
Reichstags — an dem besonmenen Verständnis dafür, daß sich Reformen meist nur schritt-
weise erreichen lassen, und daß man das erreichbare Gute nicht dem fürs erste noch un-
erreichbaren Bessern opfern darf.
Ohne Frage war zuzugeben, daß eine jetzt angenommene Reform des Straf-
verfahrens voraussichtlich, wenn demnächst die eben in Angriff genommene Neform
des Strafrechts zum Abschluß gebracht sei, in einzelnen Teilen wieder geändert
werden müsse. Aber das konnte, nachdem man sich einmal vor ZJahren entschlossen
hatte, zunächst nur mit einer Reform des Strafverfahrens als der dringendsten zu
beginnen, keinen Grund abgeben, jetzt diese abschlußreife Neform des Verfahrens fallen
zu lassen. Die Form des Strafverfahrens kann ohne Bedenken öfter und auf kürzere
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