30 Auswärtige Politik. I. Buch.
nur Alliierte oder Feinde sein.“ Haß sie Alliierte bleiben, liegt im wohlverstandenen
Interesse beider Länder. Italien und Deutschland sind durch so viele und schwerwiegende
Momente, die Abwesenheit jeder nationalen Rivalität und — da die Erinnerung an den
Kampf im Teutoburger Wald und die Schlacht bei Legnano doch weit zurückliegt —
auch aller störenden Reminiszenzen, durch die Gleichartigkeit ihres geschichtlichen Werde-
gangs und durch gemeinsame Gefahren, die sie in gleicher Weise bedrohen könnten, so
augenscheinlich aufeinander angewiesen, daß sie sich immer wieder zusammenfinden
werden. Wir neigen dazu, unser Verhältnis zu Italien, das, entgegen der landläufigen
Ansicht über den Charakter beider Völker, bei uns mehr mit dem Gefühl, in Ztalien
mehr mit dem Verstande genommen wird, bisweilen zu ungünstig zu beurteilen, bis-
weilen etwas überschwenglich aufzufassen. Italien hat weder in Algesiras, noch mit
seiner Tripolisexpedition, noch kurz vorher, bei der Entrevue von Raccionigi daran ge-
dacht, sich von uns zu trennen. Um die Haltung Italiens auf der Konferenz von Algesiras
ist ein üppiger Legendenkreis gewoben worden. Man hat behauptet, talien habe
uns in Algesiras im Stich gelassen oder gar uns gegenüber ein falsches Spiel gespielt,
und diese Meinung hat bei uns eine Zeitlang ein unbegründetes Mißtrauen gegen
Italiens Bündnistreue hervorgerufen. Tatsächlich haben die italienischen Vertreter
in einigen mehr nebensächlichen Fragen mit den Westmächten und gegen uns ge-
stimmt. Diese Abstimmungen wurden von der französischen Presse mit Geschick auf-
gegriffen und der Welt als Schwenkung Italiens vom Dreibund zu Frankreich
verkündet. In anderen und wichtigeren Fragen hat Ztalien in Algesiras unseren
Standpunkt unterstützt und gefördert. Das hat unser Vertreter in Algesiras, Herr
von Radowitz, immer anerkannt und sich wiederholt gegen die nach seiner Uber-
zeugung ungerechten Angriffe gewandt, die gegen die Stellungnahme Btaliens auf
der Konferenz gerichtet wurden. Ich kam seinem Wunsche nach, als ich im November
1906 im Reichstag den gegen Btalien erhobenen Vorwürfen entgegentrat. Herr
von Radowitz hat auch später sein Urteil über die italienischen Delegierten dahin
zusammengefaßt, daß sie in der Form vielleicht zu sehr geneigt gewesen wären,
das italienisch-französische Verhältnis in möglichst freundlichem Licht erscheinen zu
lassen, in der Sache aber uns gute Oienste geleistet hätten. Die gegenteilige Auffassung
ist ebensowenig begründet wie der in Rußland vielfach verbreitete Glaube, daß Fürst
Bismarck auf dem Berliner Kongreß Rußland getäuscht und verraten habe. Auch das
Tripolisunternehmen, das dem italienischen Volke Gelegenheit bot, einen glänzenden
Beweis seiner patriotischen Solidarität und moralischen Einheit zu geben, ist nament-
lich anfänglich in einem Teil unserer Presse nicht richtig beurteilt worden. Italien hat
auch Interessen, die außerhalb des Rahmens des Oreibundes liegen. Wir selbst haben
selbständige Interessen jenseits der Dreibundpolitik, sie fehlen auch Osterreich nicht.
Das hat Fürst Bismarck bisweilen mit Schärfe betont. Der Oreibund hätte nicht
so unverkümmerte Dauer gewonnen, wenn er eine absolute Bindung der ver-
bündeten Mächte in allen ihren Unternehmungen, auf allen ihren politischen Wegen
verlangen wollte. Cum grano Salis kann hier wieder eine Tatsache des innerpolitischen,
unseres nationalen staatlichen Lebens, vergleichsweise zur Charakterisierung des Orei-
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