Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. Völkerrecht. 79 
  
die schließlich zu einer bedenklichen Beeinträchtigung der Souveränität der Staaten 
fübren müsse. 
Andererseits ist freilich durch Ablehnung des Projekts des Weltschiedsvertrags auf 
der zweiten Friedenskonferenz der Streit über diese Frage keineswegs endgültig erledigt. 
Im Gegenteil dauert dieser Streit fort, da die Anhänger des Pazifismus in dem Ab- 
schlusse eines Weltschiedsvertrags auf Grundlage der obligatorischen Schiedssprechung 
eine Vorbereitung für die von ihnen erstrebte Weltförderation erblicken. 
Vom Ausgange dieses Streites wird es zum großen Teile abhängen, ob mit den 
beiden Friedenskonferenzen eine neue Ara in der Entwicklung des Völkerrechts im Sinne 
des Pazifismus begonnen hat und in welchem Umfange die Ziele der sog. Friedens- 
freunde werden erreicht werden. 
Würdigung der Entwicklung des Völkerrechts im letzten Jahrhundert. — 
Ausblick in die Jukunft 
Ausdehnung der völkerrechtlichen Wenn man die Entwicklung des Völker- 
Gemeinschaft. rechts seit einem Zahrhundert überblickt, 
so ergibt sich vor allem die bemerkenswerte 
Tatsache, daß in diesem Zeitraume die völkerrechtliche Gemeinschaft weit über ihren 
ursprünglichen Umfang hinaus ausgedehnt worden ist. Anfänglich umfaßte die völker- 
rechtliche Gemeinschaft bloß die westeuropäischen Staaten, später trat Nußland hinzu, 
am Ende des 18. und im Anfange des 19. Zahrhunderts wurden die Staaten still- 
schweigend in die völkerrechtliche Gemeinschaft aufgenommen, die, wie die Vereinigten 
Staaten von Nordamerika, Mexriko, Brasilien, Chile, Peru usw. aus ehemaligen, vom 
Mutterlande abgefallenen Kolonien europäischer Staaten in Amerika entstanden waren. 
Die Aufnahme dieser Staaten erfolgte stillschweigend, weil angenommen wurde, daß 
bieselben in der Hauptsache auf der gleichen Kulturgrundlage beruhen, wie die christlichen 
Staaten in Europa. 
Dagegen erfolgte die Aufnahme der Türkei im Jahre 1856 ausdrücklich und in for- 
meller Weise, da hier ein Staat in Frage war, dessen Zivilisation und Rechtseinrich- 
tungen auf ganz anderer Grundlage beruhen, wie die der christlichen Staaten. Nach- 
dem aber einmal die Türkei in die völkerrechtliche Gemeinschaft ausgenommen war, 
unterlag die stillschweigende oder ausdrückliche Aufnahme anderer nichtchristlicher Staaten 
in die völkerrechtliche Gemeinschaft keinem grundsätzlichen Bedenken, da durch die Auf- 
nahme der Türkei anerkannt war, daß es für den Eintritt in die völkerrechtliche Gemein- 
schaft genüge, wenn der betreffende Staat die für den internationalen Verkehr derchristlichen 
Staaten geltende Rechtsordnung auch für sich als verbindlich betrachte. Infolge der Zuge- 
hörigkeit zahlreicher nichtchristlicher Staaten in Asien und Afrika zur völkerrechtlichen 
Gemeinschaft, erstreckt sich, wenn man die Kolonien europäischer Staaten in Betracht 
  
  
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