Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

Internationales Privatrecht 
Von Geh. Justizrat Dr. Niemeyer, rofessor des Internationalen Rechts 
an der Universität Kiel 
Früher Stiefkind. I. Fragt man, wie es vor 25 Jahren mit der Kenntnis und 
praktischen Pflege des internationalen Privatrechts in Deutsch-- 
land bestellt war, so fällt die Antwort nicht glänzend aus. Die Praktiker wußten im 
allgemeinen nicht viel mehr von dieser Materie, als daß C. F. v. Savigny (1849) 
eine zu fast allgemeiner Anerkennung gelangte Theorie aufgestellt hatte, deren Kern 
in der Formel bestand, es müsse der Sitz der Rechtsverhältnisse im Raum aufgesucht 
werden, um festzustellen, nach welchem örtlichem Recht jedes gegebene Rechtsver- 
hältnis zu beurteilen sei. Man wußte allenfalls auch noch, daß früher C. G. v. Wächter 
(1841) etwas anderes gelehrt hatte, nämlich, daß jeder Richter grundsätzlich nur sein 
eigenes Recht, die lex fori, anzuwenden habe. Kundigere wußten, daß Savignys 
Tpeoor2:e teilweise überholt, teilweise fortentwickelt worden sie durch ein 1862 erschienenes 
berühmtes Buch des damaligen hannoverschen Gerichtsassessors Dr. Ludwig Bar „Das 
internationale Privat- und Strafrecht“. Aber auch als dieses Buch 1888 in neuer 
Auflage erschien (zur Feier von Rudolf von Zherings siebzigstem Geburtstag), auf 
mehr als das Doppelte seines früheren Umfanges angewachsen, mußte der VBerfasser 
sagen, das internationale Privatrecht werde in Deutschland noch ales Stiefkind der 
Rechtswissenschaft behandelt. Diese Vernachlässigung des internationalen Privatrechts 
von deutscher Seite, während in Frankreich, Ztalien, Holland, Belgien, der Schweiz, 
teilweise auch in England, die Materie bereits nicht nur literarische Behandlung, 
sondern auch akademische Pflege und praktische Beachtung gefunden hatte, erklärt sich 
vorzugsweise dadurch, daß die deutsche Rechtswissenschaft bis dahin ganz im Banne 
der romanistischen Technik, der längst von Zhering angeklagten, aber erst seit den 
90er Jahren wirklich erschütterten „Begriffsjurisprudenz“ stand, jener Methode, welche 
nach ihrer Natur nicht über die einzelne, d. h. die eigene, NRechtsordnung hinauszublicken 
vermochte, und welche Rechtsvergleichung, Rechtsstatistik, Rechtspolitik, internationale 
Kechtsausgleichung und internationale Rechtsgemeinschaft naturgemäß als Allotria ab- 
lehnen mußte. Die Bildung der FJuristen wie die Bildung des Rechtes konnte nach jener 
Methode nur unter das Maß einer einzigen Rechtsordnung, der heimischen, gestellt 
werden. Hausbackene Solidität, gegründet in der Tradition pandektenmäßiger Schu- 
lung (bonus Pandectista bonus jurista), bielt die deutschen Juristen ab, sich um aus- 
ländisches Recht zu kümmern, sei es auch nur in Gestalt der Frage, ob und inwieweit ein 
  
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