4 Das Heerwesen. IV. Buch.
berechtigte zu dem stolzen Streben, nicht nur die errungene Machtstellung zu behaupten,
sondern auch eine erweiterte Einflußsphäre und mit ihr eine steigende Weltgeltung
zu gewinnen. Dieses Streben wurde zur Notwendigkeit, nachdem die Grundlagen einer
Kolonialpolitik gelegt waren, und die rasche Volkszunahme den Wunsch nahelegte,
Siedelungsgebiete zu gewinnen und den Export weiter zu steigern, um für die wachsenden
Massen Arbeitsgelegenheit zu schaffen; es wies hinaus auf das Weltmeer und ließ die
Notwendigkeit auch einer starken Rüstung zur See erkennen, zum Schutz des Handels
und der kolonialen Betätigung.
So ergaben sich vom Anfang der Regierung Wil-
belms ll. an zwei gewaltige Aufgaben: der Ausbau
des Heeres zur Behauptung der innereuropäüschen
Stellung und der Bau einer Flotte zur Geltendmachung der notwendigen Weltmacht-
bestrebungen. Beide Aufgaben ergänzten sich. Eine Weltpolitik war ohne starke See-
rüstung nicht denkbar; aber anderseits mußte auch die stärkste Flotte erfolglos bleiben,
wenn es den Gegnern Oeutschlands gelang, es auf dem Lande niederzuringen und seiner
europäischen Machtstellung zu berauben. So ergab sich denn als wichtigste Aufgabe
des Staats eine Entwickelung der Heereskraft, die die Uberlegenheit Deutsch-
lands unter allen Umständen sicherstellte.
Der Kaiser fand im Volke zunächst wenig Verständnis für diese Gedankengänge.
Die Einsicht, daß Deutschland einer Flotte bedürfe, brach sich erst sehr allmählich Bahn,
und dem Ausbau des Landheeres setzte die Volksvertretung in vollendeter politischer
Unfähigkeit und Kleinkrämerei einen zähen Widerstand entgegen. Der Kampf gegen
die Auffassungen des Reichstages kennzeichnet fast während der ganzen Regierungszeit
Wilhelms lII. die allmähliche Entwickelung des Heeres. Später waren ihr auch die hohen
Forderungen für die Seerüstung vielfach nachteilig, und manchmal gewann es den
Anschein, als ob das Verständnis für die Tatsache fehle, daß ein genügend starkes
Landheer die notwendige Grundlage für jede politische Betätigung, besonders
aber für die Überseepolitik Deutschlands bilde.
Heeresentwicklung Haupt-
aufgabe des Staats.
Als Kaiser Wilhelm ll. die Regierung antrat, zählte das Heer
ohne Offiziere, Beamte, Arzte und Einjährig - Freiwillige
468 409 Mann. Es war in 15 Armeekorps und 2 baperische eingeteilt und bestand aus
534 Bataillonen Infanterie, 465 Eskadrons, 364 Batterien, 51 Fußartillerie-, 19 Pionier-,
5 Eisenbahn- und 18½⅛ Train-Bataillonen. Im Frühjahr 1888, als ein Krieg unmittel-
bar bevorzustehen schien, war die Dienstpflicht in der Landwehr bis zum 39. Lebensjahr
verlängert und dadurch das Kriegsheer um etwa 700 000 Mann verstärkt worden. Diese
Verhältnisse aber entsprachen keineswegs dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht
und der Gerechtigkeit. Zahlreiche diensttaugliche Lünglinge konnten nicht eingestellt, im
Kriegsfall mußten die alten gedienten Leute gegen den Feind geführt werden, während
zahlreiche Zungmannschaft erst auszubilden war. Die als Ersatzreservisten eingezogenen
Mannschaften dienten nur zehn Wochen, genossen also eine wesentliche Bevorzugung.
Heeresvorlage 1890.
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