Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
34 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
neuen Situation bestrebt gewesen wäre, unter Festhalten am Dreibund wenigstens für 
Deutschland ein gesichertes freundliches Einvernehmen mit Rußland zu bewahren. Zu 
diesem Zweck habe er rückwärts der Verteidigungsposition des Dreibunds der deutschen 
Politik noch gleichsam eine Aufnahmestellung gesichert im sogenannten Rückversicherungs- 
vertrag mit Rußland. Uber die Motive, die ihn beim Abschluß dieses Vertrags leiteten, 
über dessen Wert und Tragweite hat sich Fürst Bismarck auch später wiederholt und 
eingehend ausgesprochen. Er hat die Richterneuerung des Vertrags durch seinen Nach-- 
folger getadelt. Er hat darauf hingewiesen, daß auf diese Richterneuerung der Abschluß 
des russisch-französischen Bündnisses gefolgt sei. Das durch keine vertragliche Abmachung 
mehr gebundene Rußland und das isolierte Frankreich hätten sich zu einander gefunden, 
nachdem die Scheidewand zwischen beiden fortgezogen worden wäre. Fürst Bismarck 
erblickte in dieser Schwenkung Rußlands von der Seite des Deutschen Reichs an die Seite 
des unversöhnten Gegners Deutschlands eine große Verstärkung der französischen Macht- 
stellung und damit eine erhebliche Erschwerung der deutschen Politik. 
Die französisch-russische Allianz bedeutete jedenfalls eine tief- 
gehende Umwandlung der internationalen Lage. In den 
neunziger Zahren hatten wir Deutschen, wenn ich mich eines dem militärischen Leben 
entlehnten Bildes bedienen darf, vor der Front die durch die rapide Entwicklung 
des deutschen Außenhandels und den Bau der deutschen Flotte geweckte britische 
Rivalität, im Rücken den Zweibund, den Frankreich willens war, nach Möglichkeit 
für seine Hoffnungen zu nutzen. In dieser Situation mußten wir den Uber- 
gang zur Weltpolitik suchen und finden. Es war vorerst ein schmaler Weg, auf dem 
wir nur mit Vorsicht vorwärtsgehen konnten. Ahnlich wie während des Burenkrieges 
unsere Haltung zu England richteteen wir während des russisch-japanischen Krieges unsere 
Haltung zu Nußland ein. Ohne Japan gegenüber die Pflicht korrekter und strikter Neu- 
tralität zu verletzen, war unsere Haltung gegenüber Rußland eine sehr freundschaftliche. 
Unsere Neutralität gegenüber Rußland war sogar um eine Nuance wohlwollender als 
die Frankreichs. Der russisch-japanische Krieg hinterließ als Niederschlag eine Abkühlung 
der russisch-französischen und eine erhöhte Wärme in den deutsch-russischen Beziehungen. 
Richt so sehr durch die Schwächung Rußlands, die wie einst nach dem Krimkriege, so 
auch nach dem ostasiatischen Kriege vielfach überschätzt wurde, als durch die Wieder- 
herstellung vertrauensvoller Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland, deren 
einzelne Etappen die wiederholten Begegnungen zwischen den Monarchen beider Reiche 
bezeichneten, hatte der Zweibund allmählich viel von seiner ersten Schärfe verloren. 
ANuch nach der bosnischen Krise haben sich die normalen Beziehungen zwischen Rußland 
und uns rasch wiederhergestellt, wie dies der besonders befriedigende Verlauf der Be- 
gegnung bewies, die im Zuni 1909 in den finnischen Schären zwischen Kaiser Wilhelm 
und Kaiser Nikolaus stattfand. Es lag nicht im Vermögen und es konnte nicht in der 
Absicht der deutschen Politik liegen, Nußland von Frankreich zu trennen. Nachdem 
zwischen Nußland und Frankreich ein Bündnisvertrag abgeschlossen und in das nationale 
Empfinden beider Völker übergegangen war, ist uns die Möglichkeit, Rußland vom fran- 
Her Zweibund. 
  
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