Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
22 Das Heerwesen. IV. Buch. 
  
llarsten Ausdruck zu bringen. Er fand die Lösung dieser Aufgabe in der Umfassung 
der feindlichen Flügel unter gleichzeitigem Angriff gegen die Front. Mit der Ver- 
vollkommnung der Waffen glaubte er die Möglichkeit gegeben, Kräfte in der Front zu 
sparen, um die Entscheidung suchenden Flügel zu verstärken. Bei allen seinen theo- 
retischen und praktischen Kriegsübungen und auch als Kritiker historischer Geschehnisse 
hat er diesen Gesichtspunkt festgehalten. In weiten Kreisen der Armee hat diese Auf- 
fassung Fuß gefaßt. Dagegen machen sich auch Stimmen geltend, die bei aller Aner- 
kennung der Wahrheiten, die Schlieffen gelehrt hat, doch vor der ausschließlichen 
Anwendung seiner Grundsätze warnen. Sie weisen darauf hin, daß gleichzeitiger An- 
griff in Front und Flanke Uberlegenheit voraussetze und damit dem schwächeren Heer 
überhaupt die Möglichkeit genommen werde, angriffsweise zu verfahren. Auch die 
siegreiche Umfassung verbürge nur dann den Sieg, wenn ihr Erfolg sich auf der 
ganzen Kampflinie geltend machen könne, bevor eine Entscheidung in der Front ge- 
fallen sei, was bei sehr langen Fronten offenbar nicht immer der Fall sein würde. 
Man müsse daher mehr Pfeile in seinem Köcher haben, als bloß den Umfassungs- 
gedanken. Mag man nun diesen Bedenken eine gewisse Berechtigung zusprechen oder 
nicht, so steht doch fest, daß Graf Schlieffen die Operationslehre wesentlich ge- 
fördert und die Grundlage für die Weiterentwickelung der modernen Strategie 
in gewissem Sinne geschaffen hat. 
Arbeit in der Armee. In der Armee selbst leidet die freie wissenschaftliche Tätig- 
keit unter der gesteigerten Last des praktischen Dienstes 
und unter der Fülle der geforderten fachwissenschaftlichen Kenntnisse. Sie lähmen die 
schöpferische Kraft des eigenen Gedankens, wie sie sich nur aus tiefer Allgemeinbildung 
ergeben kann. Stark und lebendig hat sich trotzdem der Geist des Vorwärtsstrebens, 
der Initiative und des offensiven Gedankens in der Armee erhalten und bildet die un- 
erschütterliche Grundlage großer Zukunftsleistungen. Niemals ist vielleicht mehr in der 
Armee gearbeitet worden, wie in den letzten 25 Jahren, und in dieser Arbeit selbst liegt 
eine segenbringende Kraft. 
Die größte Hingabe und Aufopferung vermag jedoch in der Politik wie auf dem 
Schlachtfelde die reale Macht immer nur bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen, und 
so konnte wohl auch kein Klarsehender sich der Erkenntnis verschließen, daß die Ent- 
wickelung der Armee, wie sie sich unter dem Oruck des Reichstages gestaltet hatte, der 
politischen Lage und den Machtmitteln unserer vermutlichen Gegner keineswegs entsprach. 
  
umschwung der Mittlerweile war auch in der öffentlichen Meinung ein 
öffentlichen Meinung. bedeutungsvoller Umschwung eingetreten. Der Verlauf 
des Marokkostreits und das schließliche Abkommen mit 
Frankreich im Jahre 1911 hatten den Stolz des deutschen Volkes auf das Tiefste ver- 
letzt. Nun erkannte man, daß die vorhandenen Machtmittel nicht genügten, um den 
Staaten der feindlichen Tripleentente gegenüber der deutschen Politik Nachdruck zu 
verleihen. Zetzt war es die öffentliche Meinung, die die Rückkehr zur allge- 
  
  
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