Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
IV. Buch. Das Heerwesen. 2 
  
meinen Wehrpflicht forderte und an den Heeresvorlagen von 1911 und 1912 
scharfe Kritik übte. 
In dieser Stimmung fand das deutsche Volk die Balkankrisis von 1912. Der Zu- 
sammenbruch der europäischen Türkei und das gewaltige Anwachsen der fslavischen 
Balkanstaaten ließen erkennen, daß in einem europäischen Kriege das uns verbündete 
Osterreich niemals mehr in der Lage sein würde, seine Gesamtkräfte gegen Rußland 
einzusetzen, sondern stets Truppen an der Balkangrenze werde stehen lassen müssen. 
Dadurch wurden die Machtverhältnisse zwischen dem Dreibunde und dem Dreiverbande 
zu ungunsten des ersteren völlig verschoben, und unter dem Oruck dieser Verhältnisse 
entschloß sich nun auch die Regierung zu einer ausgiebigen Heeresverstärkung nicht 
nur, sondern auch zu einem weiteren Ausbau der Landesbefestigung besonders an der 
Ostgrenze. 
Heeres-Vorlage 19135. Im Frühjahre 1913, 100 Jahre nach der glorreichen Er- 
hebung Preußens gegen die napoleonische Gewaltherr-- 
schaft und im 25. Jahre der Regierung Kaiser Wilhelm II. wurde eine neue Militär- 
vorlage eingebracht und vom Reichstage im wesentlichen angenommen, die die llaffen- 
den Lücken der Heeresorganisation wenigstens einigermaßen schließen, und die per- 
sonellen Kräfte der Nation in erhöhtem Maße der militärischen Kraftentfaltung dienstbar 
machen sollte. 
Das neue Gesetz bestimmt, daß die 1911 und 1912 erfolgten Bewilligungen, die 
in einer Reihe von Jahren allmählich in Kraft treten sollten, bereits am 1. Oktober 1913 
durchgeführt würden. Außerdem aber sollen 65 000 Rekruten jährlich mehr eingestellt 
werden, um hauptsächlich zur Erhöhung der Etats bei allen Waffen Verwendung 
zu finden. Es sollen ferner neugebilbet werden: Bei 18 Znfanterieregimentern die noch 
fehlenden 3. Bataillone, Radfahrer- und Maschinengewehrkompagnien bei den 18 Zäger- 
bataillonen, 6 Kavallerieregimenter und vier in Bayern noch fehlende Eskadrons, 3 neue 
Regimenter Fußartillerie und 1 württembergisches Bataillon, 11 Pionierbataillone, 
wodurch die Trennung in Feld- und Festungspioniere ermöglicht wird, 15 neue Ver- 
kehrstruppenbataillone, unter denen sich 5 Flieger- und 2 neue Luftschifferbataillone 
befinden sollen, schließlich für den Train 1 Bataillon und 20 Kompagnien. Auch neue 
Bespannungsabteilungen für die schweren Batterien des Feldheeres sollen gebildet 
werden. Um den Unteroffizierersatz zu sichern, sollen die Unteroffiziere wesentlich besser 
gestellt, es sollen zwei Unteroffiziervorschulen neu geschaffen, in Preußen und Sachsen 
die Unteroffizierschulen und -vorschulen verstärkt werden. Für die Reserveformationen 
werden schon im Frieden eine ganze Anzahl von Offizieren bereitgestellt. Mit Rück- 
sicht auf den erhöhten Bedarf an Offizieren sollen die Kadettenanstalten vergrößert, eine 
neue Kriegsschule soll errichtet werden. Notwendig wird eine BVermehrung des Beamten- 
personals für allgemeine und besondere Verwaltungszwecke, Rechtspflege und Seel- 
sorge. Die Sanitätseinrichtungen und Ubungeplätze sollen erweitert werden. Im ganzen 
beläuft sich die Vermehrung auf 4000 Offiziere, 15 000 Unteroffiziere, 117000 Gemeine 
und 27 000 Pferde, und es sollen in Zukunft vorhanden sein: 669 Bataillone Infanterie, 
  
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