Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
38 Seemacht und Kriegeflotte. IV. Buch. 
  
krieges glich doch der Aufnahme einer Anleihe zur Vergrößerung des Betriebes. Sie 
hat England Früchte getragen bis in die Mitte des 19. Zahrhunderts binein: die Welt 
bildete damals sozusagen einen einheitlichen Wirtschaftskörper, in dem England fast 
allein den Typus des See- und Industriestaates vertrat. Sein Handel war das Binde- 
glied zwischen dem englischen workshop of the world und den übrigen Ländern der 
Welt, die ihm Kohstoffe und Bodenerzeugnisse lieferten und dafür seine Fabrikate und 
Kolonialprodukte aufnahmen. Kriegeflotten außer der englischen bestanden eigentlich 
nicht. Eigene Werte hatte auf der See ja auch nur England zu schützen. 
Ze mehr nun die anderen Staaten sich von den Folgen der langen Kriegszeit er- 
bolten, je mehr ihre Volkszahl wuchs, desto mehr vollzog sich auch in ihnen allmählich 
der Ubergang zur Industrie. Auch für sie bekamen die ausländischen, die überseeischen 
Absatz- und Einkaufsmärkte Wert, sie wurden zu Seehandelsstaaten und sodann auch 
zu Kolonialstaaten. Begünstigt wurde diese Entwickelung durch die gewaltigen Fort- 
schritte, die gerade in dieser Zeit das gesamte Verkehrs- und Nachrichtenwesen machte. 
Ourch die Eisenbahnen, die Dampfschiffe und Telegraphen wurden die Völker einander 
näher gebracht. Sie lernten ihre wechselseitigen Bedürfnisse kennen, und es war nur na- 
türlich, daß sich daraus ein stark vermehrter Güteraustausch entwickelte. 
So entstand ganz von selbst aus dem einheitlichen Wirtschaftskörper der Welt, der 
einseitig englisch organisiert gewesen war, eine Weltwirtschaft anderer Art. A#llle großen 
Staaten haben sich in ihrer Wirtschaftsweise dem englischen Typus genähert, und das 
NRebeneinanderhergehen dieser gleichartigen Wirtschaftsbetriebe auf der See kennzeichnet 
die Lage. Das Wirtschaftsleben aller Staaten ist heute — wenn auch in verschiedenem 
Maße, so doch in derselben Weise wie das ihres Vorbildes England — abhängig von der See. 
Man kann ohne Ubertreibung sagen: Die See ist die große Hauptstraße 
des Verkehres geworden, alle anderen Handelswege sind nur Anschlußlinien 
des Seeverkehrs. Darum hat aber auch die See erst diese Wichtigkeit für den Verkehr 
der Kontinentalstaaten gewonnen durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Binnen- 
wasserstraßen, und es handelt sich bei dem Ausbau der Verkehrswege im Lande sozusagen 
immer darum, einen Ort der See näher zu bringen. Der Wohlstand jedes Volkes 
ruht also nach wie vor im Lande, sei es In Bodenschätzen, in Naturprodukten 
der Heimat oder in Werte schaffender Arbeit, aber die Wirtschaftsweise 
der Weltverkehrsstaaten bringt es mit sich, daß wir die See als Straße 
nicht entbehren können. 
Oie Weltverkehrsstaaten und der Krieg. Hieraus ergibt sich die Stellung der 
heutigen Weltverkehrsstaaten zum 
Kriege. Der Landkrieg muß, wo nicht wie bei dem Inselreiche England die Flotte das mit 
besorgt, den territorialen Besitz wahren und die heimische Arbeit schütgen. Dem Seekriege 
ist von dem ganzen Verkehre- und Wirtschaftsapparat nur ein Glied zugänglich, der See- 
handel, aber seine Unterbindung bringt fast den ganzen Betrieb zum Stillstand und 
zeigt, daß das ganze Land abhängig ist von der See und damit vom Seekriege. Denn 
nicht nur die Küste wird geschädigt, wenn der Feind unsere Häfen schließt, sondern das 
  
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