IV. Buch. Seemaacht und Kriegsflotte. 39
ganze Land. Seine Schiffe müssen haltmachen, wo die See endet, aber über die Küste
hinweg greift die gepanzerte Hand der Seeherrschaft, sie pocht an das Kontor des Kauf-
manns drinnen im Lande, an die Tore der Fabriken in den großen binnenländischen
Zentren der Industrie, wie an die Türe des Arbeiters.
Solcher Verletzlichkeit für den Seekrieg, die für England schon lange vorhanden
war, hatten sich die Festlandsstaaten immer mehr genähert, und dadurch ist das Ver-
hältnis, das am Ende der Napoleonischen Kriege bestand, verschoben worden: die wirt-
schaftliche Abhängigkeit des Kontinents von England, die der Beginn des vergangenen
Jahrhunderts gebracht hatte, besteht im damaligen Sinne nicht mehr. Sie hat sich aber
dadurch in eine militärische verwandelt, daß die Festlandsstaaten verwundbarer geworden
sind für Englands Hauptwaffe, den Seekrieg. So ist ihnen, den Konkurrenten Englands,
die Flottenrüstung aufgezwungen worden, die ihrem Anteil am Geewerkehr entspricht.
Sonst leben sie von Englands Gnade.
Oieser Staat ist es denn auch gewesen, der als erster seine Folzerunen aus der neuen
Lage gezogen und das „Wettrüsten“ begonnen hat. In der richtigen Uberlegung, daß das
Hinausgehen seiner wirtschaftlichen Mitbewerber auf die Verkehrswege der See nur
einen Sinn habe, wenn sie durch den Ausbau ihrer Flotten für den nötigen Schutz sorgten,
beschloß er, ihnen zuvorzukommen. Ehe die Flotte Frankreichs, die bisherige einzige
Rivalin, sich von den sie schwächenden Einflüssen der nouvelle école erholt hatte,
in demselben Jahre, da Deutschland durch die Inbaugabe der vier „Brandenburg“-
Schiffe den Bau von großen Schlachtschiffen endlich wieder aufnahm und die Verei-
nigten Staaten das erste seegehende Panzerschiff in Auftrag gaben, im Zahre 1889 hat
England in der naval defence act 450 Millionen Mark zu einer sprungweisen Ver-
stärkung seiner damals schon alle anderen weit überragenden Flotte auf den Etat ge-
bracht, für die 10 Schlachtschiffe, 42 Kreuzer und 18 Torpedokanonenboote gebaut
werden sollten.
In die erste Reihe dieser wirtschaftlichen Konkurrenten Englands begann nun
Deutschland zu treten. Die Bismarcksche Schutzzollpolitik von 1879 hatte viele Zweige
der Großindustrie so erstarken lassen, daß der innere Markt ihnen nicht mehr genügte.
Sie waren, als die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. politische Beruhigung und da-
mit weiteren Aufschwung von Handel und Wandel zu bringen begann, wohlgerüstet,
um binauszutreten auf den Weltmarkt, wie es die steigende Volkszahl in Deutschland
ja auch gebieterisch forderte. Die vielumstrittenen und viel verurteilten Caprivischen
Handelsverträge von 1891 gaben dann die Möglichkeit zu langfristigen gewinnbringenden
Geschäftsabschlüssen, und schnelles Wachstum der überseeischen deutschen Beziehungen
war die Folge. Mit immer scheleren Blicken sah man in England auf diesen Umschwung,
immer dringender trat für uns die Notwendigkeit hervor, für einen wirksamen Schutz zu
sorgen, wenn nicht Gefahren entstehen sollten.
Auf kolonialem Gebiet war nach innen hin Ruhe eingetreten, nach außen bin Still-
stand. Nachdem zuerst in Kamerun, dann auf den Samoa-Inseln und in Ostafrika das
Personal der Flotte in mehrfach verlustreichen Gefechten am Lande hatte eingreifen
müssen, um Aufstände niederzuwerfen, setzte allmählig der friedliche Ausbau ein; im
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