Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
IV. Buch. Seemacht und Kriegsflotte. · 47 
zum Kriegsgebiet durch Bestimmungen über die Benutzung neutraler Häfen und über 
Zuführung von Kohlennachschub erschwert haben, kommt einer Verweigerung des höchsten 
Souveränitätsrechts der davon betroffenen Staaten, des Rechtes Krieg zu führen, nahe. 
Das Jahr 1911 hat allerdings wieder einen 
Rückschlag und in seinen Folgen die letzte 
deutsche Flottennovelle gebracht. Als, unserer Diplomatie unerwartet, hinter Frank- 
reich plötzlich die Kriegsdrohung Englands wegen des Vorgehens Deutschlands in 
der Marokkofrage auftauchte, hat man bei uns von einem englischen „Uberfall“ ge- 
sprochen. Dieser Ausdruck ist, wenn damit der Nebengedanke eines hinterlistigen Friedens- 
bruchs verbunden sein soll, nicht ganz zutreffend. Ee liegt, wie ich es schon gesagt habe, 
in der Natur des Seekrieges, daß er schneller zufaßt als der Landkrieg. Drum soll man der 
Offensive des Stärkeren, die im Augenblick der Kriegserklärung hinübergreift an unsere 
Küste, mit nüchternem Blick gewärtig sein und darauf rüsten. Dies hat unsere Flotten- 
Novelle von 1912 getan, indem sie statt zweier Geschwader deren drei mit voller Be- 
satzung kriegsbereit halten und in sie die besten Schiffe einstellen will. Ferner hat sie uns, 
ebenfalls zur Verbesserung der Kriegsbereitschaft, eine Erhöhung des Mannschaftsstandes 
gebracht, sowie eine Vermehrung der Unterseeboote und die Einstellung einiger Luft- 
schiffe in den Etat. Das durch Schaffung eines dritten aktiven Geschwaders erforderliche 
Mehr von Schiffen soll erreicht werden durch Verzicht auf die bisherige Materialreserve 
und durch Neubau dreier Linienschiffe und zweier kleiner Kreuzer. « 
Diese Novelle zum Flottengesetz verdankt Deutschland zum Teil der Stimme der 
öffentlichen Meinung, die den Ereignissen des Zahres 1911 gegenüber zur Vervollständi- 
gung der Rüstungen zu Wasser und zu Lande drängte, denn zum erstenmale hatten 
wir zur Wahrung überseeischer Interessen einer Kombination von Land- und Seekrieg 
gegenübergestanden, wobei noch nicht völlig feststeht, wieweit England sich damals 
auf letzteren beschränken oder seinem Verbündeten auch am Lande Hilfe leisten wollte. 
Wir haben mit dieser Vervollständigung unserer Rüstungen den beiden Westmächten 
gezeigt, daß wir militärisch auf unserer Hut sind. Aber noch ein anderes ist erforderlich, 
wo die Möglichkeit kriegerischer Konflikte näherrückt: ein richtiges Zusammenwirken 
der diplomatischen und militärischen Maßnahmen in der Vorperiode solcher Konflikte. 
Außer der oben behandelten Eigenart des Seekrieges muß auch der Differenz in der See- 
kriegsrüstung Englands und Deutschlands Rechnung getragen werden, denn eine ab- 
solute Waffe ist unsere Flotte gegenüber England nicht und soll sie nicht werden, son- 
dern nur eine präventive und bedingte. Rückt die Möglichkeit eines Krieges näher, so 
genügt also nicht wie im deutsch-französischen Kriege von 1870 eine politische Fürsorge, 
die dem Feinde Bundesgenossen fernhält, sondern wenn ein Krieg für uns Erfolg ver- 
sprechen soll, so muß Aussicht dazu vorhanden sein, daß England durch den. Kraftverluft, 
den das Niederringen der deutschen Flotte zur Folge hat, anderswo in der Welt in 
schweren Nachteil versetzt wird. Ob dies zutrifft, kann aber die Flottenleitung allein 
nicht übersehen. Ein Zusammengehen mit einer die Verhältnisse des Seekrieges nichtig 
einschätzenden Politik ist notwendig, ehe eine politische Aktion begonnen wird und bei 
Die Flottennovelle von 1912. 
  
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