Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
52 Seemacht und Kriegsflotte. IV. Buch. 
  
ch Eine Auslandsflotte von 8 großen und 10 lleinen Kreuzern.) Von allen 
diesen Verbänden ist die Auslandsflotte noch am weitesten zurück. Aber wie England 
doch jetzt nicht nur allein auf die Nordsee schaut, sondern sich wieder der ferner liegenden 
und außereuropäischen Seegebiete zu erinnern beginnt, so werden auch wir trotz der 
Wichtigkeit, die der heimischen Schlachtflotte zukommt, doch unserer Friedensaufgabe 
im überseeischen Auslande mehr Kräfte zuwenden müssen, wenn unsere Seeinteressen 
und unser Ansehen dort nicht Schaden leiden sollen. Was die Flottennovelle von 1906 
dafür auf den Etat gebracht hat, ist immer noch nicht verfügbar, und schließlich leidet die 
Heimatflotte selbst, wenn in dringenden Fällen immer wieder auf sie zurückgegriffen 
werden muß. 
Hie deutsche Seemachtsstellung Erweitern wir aber den Nahmen unserer Be- 
trachtung wieder zu dem Begriff der Seemacht, 
unter dem Schutz der Flotte. von dem wir ausgegangen sind, so kann mit 
Befriedigung festgestellt werden, daß Deutschlands Handel, seine Industrie und seine 
Schiffahrt in dieser Zeit zwar Schwankungen der wechselnden Konjunktur ausgesetzt ge- 
wesen sind, daß sie sich aber innerhalb des stets wachsenden Welthandels und Weltverkehrs 
stärker vermehrt haben, als bei Bemessung der Stärke unserer Flotte im Jahre 1900 
angenommen werden konnte. Wir haben in einzelnen Ausfuhrartikeln, z. B. Roheisen, 
England überflügelt, unser Außenhandel, von dem ein immer größerer Teil auf den 
Seehandel kommt, zeigt eine stärkere prozentuale Zunahme als der englische, und diese 
friedlichen Elemente der Seemacht sind des Schutzes wohl wert, den unsere Flotte innerhalb 
des Gesamtorganismus der Flottenrüstungen der Welt zur Aufrechterhaltung des Gleich- 
gewichtes auf der See darstellt. 
Ein Wandel hat sich in gewissem Sinne vollzogen in der Frage der Kolonien. Seit 
Deutschland innerhalb der ihm gezogenen Grenzen ein große Werte ausführender In- 
dustriestaat geworden ist, haben sich die Erwerbsmöglichkeiten in der Heimat derart 
vermehrt, daß eine nennenswerte Auswanderung nicht mehr stattfindet. Die Notwendig- 
keit für den Besitz von Siedelungskolonien, die den Uberschuß unserer Bevölkerung auf- 
nehmen können, statt ihn fremden Ländern zugute kommen zu lassen, ist daher nicht mehr 
in dem Maße vorhanden, wie früher: der deutsche Kolonialhunger, insoweit er früher 
auf diesem Grunde beruhte, hat abgenommen. Da auch der Geburtenüberschuß abnimmt, 
wäre es zudem wohl besser, überschießende Menschenkraft zunächst zur inneren Kolo- 
nisation im Lande zu behalten. Denn Deutschland bedarf, um als Kontinentalstaat sich 
des wirtschaftlichen und militärischen Drucks auf seine Grenzen zu erwehren, einer zahl- 
reichen arbeitsamen und wehrhaften Bevölkerung. Was wir aber an Kolonien besitzen 
und was uns darüber hinaus zur Schaffung eigener überseeischer Absatz- und Einkaufs- 
  
  
1) OHer heutige Stand des Ausbaus der Flotte sei kurz dadurch charakterisiert, daß die letzten der 
auf die Zahl der Linienschiffe im Jahre 1900 angerechneten Küstenpanzerschifse von 4150 Tons De- 
placement jetzt in Schiffen der neuen „Kaiser“-Klasse von 24700 Tons Ersatz gefunden haben. Die 
Ersatzschiffe für die vier beim Regierungsantritt des Kaisers geforderten Schiffe der „Brandenburg“- 
Klasse sind im Bau. 
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