Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
4 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
geschweige denn beseitigt werden. Der momentane Zorn gegen England hätte noch viel 
leidenschaftlicher und innerlicher sein können, als er es tatsächlich war, er wäre doch nicht 
der Anfang dauernder feindseliger Gesinnungen geworden, denn das Verhältnis Frank- 
reichs zu England war schon vor dem Konflikt im Sudan in die Rechnung der franzö- 
sischen Politik einbezogen worden. Frankreich sah schon früh in der englischen Eifersucht 
gegen Deutschland den natürlichen Verbündeten gegen die Sieger von 1870 und drängte 
an die Seite Englands. Man war in Paris enttäuscht, daß England für die französische 
Freundschaft ein Opfer an Interessen im Sudan und am #il nicht hatte bringen wollen, 
aber Frankreich selbst war unter allen Umständen, wenn auch mit zusammengebissenen 
Zähnen, bereit, den gleichen und höheren Preis für die englische Freundschaft zu zahlen. 
Die Niederlage im Faschoda-Streit wurde auf das Unkostenkonto der französischen 
Revanchepolitik gebucht und wirkte im letzten Erfolge weniger verstimmend gegen Eng- 
land als aufs neue erbitternd gegen Deutschland. Achtundvierzig Stunden nach dem 
Zurückweichen Frankreichs im Faschoda-Streit wurde ein französischer Botschafter, einer 
der besten politischen Köpfe Frankreichs, von seinem italienischen Kollegen auf den 
Stand der französisch-englischen Beziehungen angesprochen. Der Btaliener fragte, 
welche Rückwirkung das Ereignis auf die französische Stellung zu England haben werde. 
Der Franzose erwiderte: „Eine günstige! Nachdem die ODifferenz über den Sudan er- 
ledigt ist, steht einer vollen Entente mit England gar nichts mehr im Wege.“ 
Diese Entente ist denn auch nicht lange nach dem Faschoda- 
Zwischenfall zustande gekommen und hat sich bis heute durch 
alle Wechselfälle der internationalen Politik behauptet. Durch sein Bündnis mit Frank- 
reich und die Verwicklungen im Osten ist Rußland häufig an die Seite der französisch- 
englischen Entente getreten, so daß mit Recht von einer Triple-Entente gesprochen 
werden darf, als eines Gegenstücks zum Dreibunde. Oie politische Führung des Drei- 
verbandes hat in den entscheidenden Momenten meist in den Händen Englands gelegen. 
Und England hat sich bisher ebensowenig wie Rußland dazu verstanden, in den Dienst 
der französischen Revanchepolitik zu treten, sich vielmehr von den eigenen Interessen 
leiten lassen. Die englische Führung hat uns zuzeiten das Leben schwer gemacht, aber 
sie hat ebensooft beruhigend und ernüchternd auf Frankreich eingewirkt und für die Er- 
haltung des europäischen Friedens Wertvolles geleistet. 
Triple-Entente. 
  
Heutschland — Frankreich — England. Gewiß ist es England Ernst mit 
seiner Besorgnis vor unserer auf- 
steigenden Seemacht und unserer ihm an vielen Punkten unbequemen Konkurrenz. 
Gewiß gibt es noch heute Engländer, die glauben, daß, wenn der lästige deutsche Rivale 
aus der Welt verschwände, England nach dem Ausspruch von Montaigne, que le dommage 
de l'un est le profit de l’autre nur gewinnen könne. Zwischen solchen englischen 
Stimmungen und der französischen Grundstimmung uns gegenüber besteht aber doch 
ein ausgeprägter Unterschied, der politisch entsprechend zum Ausdruck kommt. Frank- 
reich würde uns angreifen, wenn es sich bei zureichenden Kräften glaubte, England nur 
  
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