Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
84 Zumere Politik. I. Buch. 
  
einer der schönsten Tharakterzüge unseres Volkes. Aber dem Deutschen ist das Wissen 
von politischen Dingen meist eine rein-geistige Angelegenheit, die er mit den tatsächlichen 
Vorgängen des politischen Lebens gar nicht verknüpfen mag. Er könnte es auch nur 
in seltenen Fällen. Denn führt auch ein entwickeltes logisches Vermögen zum richtigen 
Urteil, so fehlt es doch zu oft am spezifisch politischen Verstande, der die Tragweite einer 
gewonnenen Erkenntnis für das Leben der Allgemeinheit erfassen kann. Der Mangel 
an politischem Sinn setzt den Wirkungsmöglichkeiten auch eines hochentwickelten politi- 
schen Wissens enge Grenzen. Ich habe mich während meiner Amtszeit lebhaft für die 
Förderung des staatsbürgerlichen Unterrichts interessiert, ich erwarte auch heute von ihm 
um so bessere Früchte, je mehr den Deutschen aller Stände und jedes Bildungsgrades 
die Möglichkeit geboten wird, an solchen Unterrichtskursen teilzunehmen. Aber bis ange- 
borene und anerzogene Schwächen und Mängel unseres politischen TCharakters auf diesem 
Wege behoben werden, wird viel Wasser unsere Ströme binabfließen. Inzwischen könnte 
das Schicksal, das bekanntlich ein vornehmer aber teurer Hofmeister ist, es übernehmen, 
uns politisch zu erziehen, nämlich durch den Schaden, den uns unsere in unserem Volks- 
charakter liegenden politischen Schwächen wieder und wieder bringen müssen. Schwächen, 
auch politische, lassen sich selten durch Wissen, meist nur durch Erlebnisse kurieren. Hoffen 
wir, daß es nicht zu schmerzliche Erlebnisse sein mögen, die uns zu vielen und herrlichen 
Gaben das politische Talent hinzuerwerben. Trotz einer an politischem Mäßgeschick reichen 
Vergangenheit besitzen wir dieses Talent noch nicht. Ich unterhielt mich einmal mit dem 
verstorbenen Ministerialdirektor Althoff über dieses Thema. „Ja, was verlangen Sie 
denn eigentlich?" entgegnete mir der bedeutende Mann mit dem ihm eigenen Humor. 
„Wir Deutschen sind das gelehrteste und dabei das kriegstüchtigste Volk der Welt. Wir 
haben in allen Wissenschaften und Künsten Hervorragendes geleistet, die größten Philo- 
sophen, die größten Dichter und Musiker sind Deutsche. Neuerdings stehen wir in den 
Naturwissenschaften und auf fast allen Gebieten der Technik an erster Stelle und haben es 
noch dazu zu einem ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Wie können Sie 
sich da wundern, daß wir politische Esel sind. Irgendwo muß es hapern.“ 
Politischer Sinn ist Sinn für das Allgemeine. Eben daran gebricht es den Deutschen. 
Politisch begabte Völker setzen, balb bewußt, bald mehr instinktio, im rechten Augenblick 
auch ohne den Druck einer besonderen Notlage, die allgemeinen nationalen Interessen 
den besonderen Bestrebungen und Wünschen voran. Im deutschen Charakter liegt es, 
die Tatkraft vorwiegend im Besonderen zu üben, das allgemeine Interesse dem einzelnen, 
dem engeren, unmittelbarer fühlbaren nachzustellen, ja unterzuordnen. Das hat Goethe 
im Auge mit seinem oft zitierten grausamen Ausspruch, daß der Deutsche im Einzelnen 
tüchtig, im Ganzen miserabel sei. 
Der der Menschbeit eigene Trieb, sich zu besonderen Zwecken zu Vereinen, Ver- 
bänden und Gemeinschaften zusammenzuschließen, dieser natürliche politische Trieb 
gewinnt seine höchste Entwicklungsform im staatlichen Zusammenschluß der Nation. 
Wo diese höchste Form mit Bewußtsein erreicht ist, verlieren die niederen im allgemeinen 
mehr und mehr an Geltung. Oer nationale Zweckverband ordnet sich die lleineren, 
besonderen, ideellen und materiellen Zwecken dienenden Verbände unter. Nicht gewalt- 
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