Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
1I. Buch. I. Einführung. 45 
  
sam und plötzlich, sondern im Zuge der allmählichen Ausbreitung des Nationalbewußt- 
seins. Der Fortschritt dieser Entwicklung ist maßgebend für den Fortschritt der nationalen 
Einigkeit und Geschlossenheit. Völker mit starkem politischen Sinn kommen dieser Ent- 
wicklung entgegen, der Deutsche hat sich oft gegen sie zur Wehr gesetzt. Aicht im bösen 
Willen, nicht aus Mangel an vaterländischem Gefühl, sondern seiner Natur folgend, 
die sich, gebunden an die lleinen Vereine, wohler fühlt, als eingeordnet in den weiten 
nationalen Verband. „Deutsche Parlamente“, sagte mir einmal in seiner kaustischen 
Art und als Ergebnis seiner 40jährigen parlamentarischen Erfahrung Herr von Miquel, 
„„sinken meist nach verhältnismäßig kurzer Zeit auf das Niveau eines Bezirksvereins, 
den außer persönlichen Zänkereien nur Lokalfragen interessieren. In unseren Parla- 
menten hält sich eine Debatte selten länger als einen Tag auf der Höhe, am zweiten 
Tag tritt schon die Ebbe ein und dann wird über Miserabilitäten möglichst breit und 
wirkungslos geredet.“ Auf diesen Zug ins Einzelne und zum Besonderen ist auch 
die deutsche Vereinsmeierei zurückzuführen. Der oft gehörte Scherz, daß zwei 
Deutsche nicht zusammentreffen könnten, ohne einen Verein zu gründen, hat seinen 
ernsten Sinn. In seinem Verein fühlt sich der Deutsche wohl. Und wenn ein VBerein 
größere Zwecke wirtschaftlicher oder politischer Natur verfolgt, so sehen seine Mit- 
glieder und namentlich seine Führer in ihm bald den Punkt des Archimedes, von dem aus 
sie die ganze politische Welt aus den Angeln heben möchten. Der verewigte Abgeordnete 
von Kardorff sagte mir nicht lange vor seinem Tode: „Sehen Sie, welche Vereinsmeier 
wir sind. Der Verein wird uns Selbstzweck. Die „alliance française" hat Millionen zu- 
sammengebracht, um französische Schulen im Ausland zu gründen, aber nie daran ge- 
dacht, der Regierung die Richtlinien ihrer Politik vorzuschreiben. Unser Alldeutscher 
Verband hat viel zur Belebung des Nationalgefühls getan, aber dafür betrachtet er sich 
auch als die Hböchste Instanz in Fragen der auswärtigen Politik. Der Flottenverein 
bat für die Popularisierung des Flottengedankens Großes geleistet, aber nicht immer der 
Versuchung widerstanden, Regierung und Reichstag die Wege der Flottenpolitik vorzu- 
zeichnen. Der Bund der Landwirte, in einem Moment schwerer Bedrängnis der Land- 
wirtschaft gegründet, hat dem Zusammenschluß der Landwirte eminente Dienste geleistet, 
ist jetzt aber so weit, daß er alles über seinen Leisten schlagen will und Gefahr läuft, den 
Bogen zu überspannen. Wir spinnen uns so sehr in die Zdee unseres Vereins ein, 
daß wir außerhalb dieses Vereins nichts mehr sehen.“ Den Gesinnungegenossen, 
den Interessengefährten im Kleineren findet der Deutsche leicht, den im Großen nur 
schwer. Ze spezieller ein Zweck ist, desto schneller ist für ihn ein deutscher Verein gegründet, 
und zwar nicht für den Moment, sondern für die Dauer. Ze allgemeiner ein Ziel, desto 
langsamer vereinigen sich die Deutschen zu seiner Erreichung, desto geneigter sind sie, von 
der mühsam gewonnenen Gemeinschaft schnell und kleiner Anlässe wegen wieder zu lassen. 
Oie politische Vergangenheit Gewiß ist auch unser Volk starker und bewußter 
des deutschen Volkes gemeinsamer nationaler Bewegungen in hohem 
Grade fähig. Die Geschichte kennt Beispiele 
die Fülle. Nationales Bewußtsein, nationale Leidenschaft und nationaler Opfermut 
  
  
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