Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
56 Innere Politik. I. Buch. 
haben uns, Gott sei Lob und Dank, niemals ganz gefehlt, und in den Zeiten 
größter nationaler Zerrissenheit ist das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit 
nicht nur nicht abgestorben, sondern zu leidenschaftlicher Sehnsucht angewachsen. Unsere 
schwächsten politischen Zeiten, die Zeiten offenbarsten staatlichen Verfalls haben uns 
gerade die Blütezeiten unseres nationalen Geisteslebens gebracht. Oie Klassiker des 
Mittelalters wie die der neuen Zeit haben die deutsche nationale Literatur inmitten eines 
zerfallenden und zerfallenen nationalen staatlichen Lebens geschaffen. Andererseits hat 
unser Volk auch niemals das Bewußtsein für seine politische Zusammengehörigkeit und 
Selbständigkeit so weit verloren, daß es für längere Zeit fremde Herrschaft hätte tragen 
können. Gerade in der Not fanden die Deutschen in den Tiefen der deutschen Volksseele 
den Willen und die Kraft zur Uberwindung der nationalen Spaltungen. Der Befreiungs-- 
kampf vor hundert Zahren, der seine lleineren Vorbilder in vergangenen Zahrhunderten 
hat, wird ein ewiges Wahrzeichen deutschen nationalen Willens und nationalen Frei- 
beitsdranges bleiben. 
Aber im Gegensatz zu politisch glücklicher veranlagten Bölkern sind die deutschen 
Außerungen nationaler Einigkeit mehr gelegentlich als dauernd. 
„Ich habe der Deutschen Zuni gesungen, 
Das hält nicht bis in Oktober,“ 
llagt Goethe nicht lange nach den Freiheitskriegen. Aur zu oft folgte bei uns 
auf die von der Not erzwungene Einigung wieder ein Auseinanderfallen in kleinere 
politische Verbände, Staaten, Stämme, Stände oder in neuerer Zeit Parteien, die ihre 
besonderen Aufgaben und Ziele den allgemeinen nationalen voranstellten und die ver- 
gangenen Großtaten nationaler Einigkeit zu einem Objekt häßlicher Fraktionskämpfe 
erniedrigten. In der deutschen Geschichte ist nationale Einigkeit die Ausnahme, der 
Partikularismus in seinen verschiedenen, den Zeitverhältnissen angepaßten Formen die 
Regel. Das gilt von der Gegenwart wie von der Vergangenheit. 
Oie Geschichte kaum eines Volkes ist so reich an großen Erfolgen und Leistungen auf 
allen Gebieten, die menschlicher Betätigung offenstehen. Deutsche Waffen- und Geistes- 
taten haben nicht ihresgleichen. In der Geschichte keines Volkes aber steht jahrhunderte- 
lang der macht- und weltpolitische Fortschritt in so schreiendem Verhältnis zu Tüchtigkeit 
und Leistungen. Die JZahrhunderte unserer nationalen politischen Ohnmacht, der Ver- 
drängung Deutschlands aus der Reihe der großen Mächte wissen vom Unterliegen deutscher 
Waffen unter fremde wenig zu melden, die Epoche Napoleons I. ausgenommen. Unser 
langes nationales Mißgeschick war nicht fremdes Verdienst, es war unsere eigene Schuld. 
Als ein in hadernde Stämme zerspaltenes Volk sind wir in die Geschichte eingetreten. 
Das deutsche Kaiserreich des Mittelalters ward nicht gegründet durch die freie Einigung 
der Stämme, sondern durch den Sieg eines einzelnen Stammes über die anderen, 
die lange Zeit widerwillig die Herrschaft des Stärkeren anerkannten. Die GElanzzeit 
unseres nationalen Kaisertums, die Zeit, da das Deutsche Reich unumstritten die Vormacht 
in Europa übte, war eine Zeit nationaler Einigkeit, in der die Stämme und Herzöge am 
Willen und an der Macht des Kaisers die Grenze ihrer Eigenwilligkeit fanden. Das Kaiser- 
reich des Mittelalters konnte im Kampf mit dem Papsttum nur deshalb erliegen, weil die 
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