Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. I. Einführung. 57 
  
römische Politik dem deutschen Kaiser in Deutschland Widerstand zu erwecken verstand. 
Die Schwächung der kaiserlichen Macht war den Fürsten willkommene Gelegenheit, 
die eigene zu stärken. Während das politische Leben ODeutschlands sich in eine Unzahl 
selbständiger städtischer und territorialer Gemeinwesen auflöste, bildete sich in Frankreich 
unter einem starken Königtum der geschlossene Nationalstaat, der Deutschland in seiner 
europäischen Vormachtstellung ablöste. Es kam die religiöse Spaltung. Oie längst nur 
noch äußerlich im Reiche verbundenen deutschen Territorialstaaten wurden offene Feinde 
durch den Bekenntnisstreit und, für deutsche Art ewig bezeichnend, die deutschen Staaten, 
protestantische wie katholische, scheuten den Bund mit dem andersgläubigen Auslande 
nicht, um die andersgläubigen Deutschen zu bekämpfen. Die Religionskriege haben das 
deutsche Bolk um Jahrhunderte in seiner Entwicklung zurückgeworfen, das alte Reich 
fast bis auf den Namen vernichtet und die selbständigen Einzelstaaten geschaffen, deren 
Rivalitätskämpfe die nächsten zweieinhalb Zahrhunderte bis zur Gründung des neuen 
Deutschen Reichs erfüllten. Die deutsche West- und Nordmark gingen uns verloren 
und mußten in unserer Zeit mit dem Schwert wiedergewonnen werden. DOie neuent- 
deckte Welt jenseits der Ozeane ward unter die anderen Mächte aufgeteilt, die deutsche 
Flagge verschwand vom Meere, um erst in diesen letzten Jahrzehnten ihr Recht wieder- 
zugewinnen. Die endliche nationale Einigung wurde nicht in stillem Ausgleich, sondern 
im Kampf Deutscher gegen Deutsche gewonnen. Und wie das alte deutsche Kaiserreich 
gegründet wurde durch einen überlegenen Stamm, so wurde das neue gegründet durch 
den stärksten der einzelnen Staaten. Die deutsche Geschichte hat gleichsam ihren Kreis- 
lauf vollendet. In moderner Form, aber in alter Weise hat das deutsche Volk sein früh 
vollbrachtes, durch eigene Schuld wieder zerstörtes Werk nach einem Jahrtausend noch 
einmal und besser vollendet. Nur einem Volk von kernigster Gesundheit, von unverwüst- 
licher Lebensfähigkeit konnte das gelingen. Freilich haben wir Deutschen ein Jahrtausend 
gebraucht, zu schaffen, zu zerstören und neu zu schaffen, was anderen Völkern schon seit 
Jahrhunderten festes Fundament ihrer Entwicklung ist: ein nationales Staatsleben. 
Wollen wir weiter kommen auf den Wegen, die uns die Reichsgründung neu erschlossen 
hat, so müssen wir auf die Niederhaltung solcher Kräfte dringen, die aufs neue eine Gefahr 
für die Einheit unseres nationalen Lebens werden können. Es darf sich nicht wieder wie 
vor alters die beste deutsche Kraft verbrauchen im Kampf der Reichsleitung gegen parti- 
kulare Mächte und im Kampf der partikularen Mächte untereinander ohne Rücksicht auf 
die Interessen des Reichs. 
Die Reichsgründung hat die staatliche Zerrissenheit 
Deutschlands überwunden, unser nationales staatliches 
Leben grundstürzend verwandelt, sie hat aber nicht 
zugleich den Charakter des deutschen Volkes ändern, unsere angeerbten politischen 
Schwächen in politische Tugenden umwandeln können. Der Deutsche blieb Parti- 
kularist auch nach 1871. Er ist es wohl anders, moderner, aber er ist es noch. 
Im Partikularismus der Einzelstaaten fand der deutsche Sondergeist seinen stärksten 
Ausdruck, nicht den einzig möglichen. Der staatliche Partikularismus ist uns am unmittel- 
Deutscher Sondergeist im 
neuen Deutschen Reiche. 
  
  
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