58 Inmere Politik. 1. Buch.
barsten bewußt geworden, weil er in erster Linie das nationale Mißgeschick der letzten Zahr-
hunderte deutscher Entwicklung verschuldet hat. Darum war seine UÜberwindung der all-
gemeine patriotische Wunsch, der durch Bismarck erfüllt wurde. Nacc menschlichem Er-
messen haben wir von Sonderbestrebungen der Einzelstaaten Ernstes nicht mehr für die
Einheit unseres nationalen Lebens zu fürchten. Aber vor den A#ußerungen partikula-
ristischen Geistes sind wir deshalb keineswegs geschützt. Dieser Geist hat sich nach und schon
während der staatlichen Einigung Deutschlands ein anderes Feld politischer Betätigung
gesucht und es gefunden im Kampf der politischen Parteien.
Wenn dem deutschen Parteileben im Gegensatz zu dem vielfach älteren und fester
eingewurzelten anderer Nationen ein spezifisch partikularistischer Tharakter eigen ist, so
zeigt sich das gerade in denjenigen Momenten, die unser Parteileben von dem anderer
Völker unterscheiden. Wir haben lleine Parteibildungen, die bisweilen gegründet
sind, um engste Interessen und Zwecke zu verfolgen, einen Sonderkampf zu führen, für
den innerhalb der Aufgaben eines großen Reiches kaum oder gar nicht Raum ist. Wir haben
den religiösen Gegensatz in seiner ganzen Stärke in unser Parteileben hinübergenommen.
Der Kampf der Stände und Klassen, deren Gegensatz die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung der modernen Zeit in anderen alten Kulturstaaten mehr und mehr ausge-
glichen hat, kommt im deutschen Parteileben noch wenig vermindert zum Ausdruck.
Die Rechthaberei und Kleinlichkeit, die Verbissenheit und Gehässigkeit, die früher im
Hader der deutschen Stämme und Staaten lebten, haben sich auf unser Parteileben fort-
geerbt. In anderen Staaten ist das Parteileben eine interne nationale Angelegenheit,
die parteipolitische Gesinnungsgemeinschaft mit dem Ausländer verschwindet völlig neben
dem Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit auch mit der inländischen Gegen-
partei. Im Aluslande wird die parteipolitische Obe#engemeinschaft mit Fremden wohl
gelegentlich in Festreden bei internationalen Kongressen akademisch zur Schau getragen,
in der praktischen Politik spricht sie wenig oder gar nicht mit. Wir Deutsche haben
starke Strömungen in großen Parteien, die auf eine Internationalisierung der Partei-
meinung hindrängen, von der nationalen Bedingtheit des Parteilebens nicht überzeugt
sind. #uch hier in moderner Form eine Wiederkehr alter deutscher Unsitte. Vor allen
Dingen fehlt unseren Parteien nur zu oft die Selbstverständlichkeit, mit der die Parteien
anderer Nationen die parteipolitischen Sonderinteressen hinter die allgemeinen und keines-
wegs nur binter die ganz großen nationalen Interessen zurückstellen. Mit der Erfüllung
der oft betonten Forderung: „Das Vaterland über die Partei“ ist es noch vielfach schwach
bestellt im Deutschen Reich. Nicht eigentlich, weil des Deutschen Liebe zum Vaterlande
geringer ist als die irgendeines Ausländers, sondern weil des Deutschen Liebe zu seiner
Partei so viel größer ist als anderswo. Dementsprechend erscheint dem Deutschen der
momentane Erfolg, wohl auch nur die momentane Machtäußerung der eigenen Partei
so Überaus wichtig, wichtiger als der allgemeine nationale Fortschritt.
Man kann nicht sagen, daß unsere deutschen Parteikämpfe mit größerer Leidenschaft
geführt werden als in anderen Staaten. Oie politische Passion des Deutschen erwärmt
sich auch in erregten Zeiten selten höher als bis zu einer mittleren Temperatur. Das ist
noch ein Glück. Bei anderen, namentlich bei romanischen Völkern pflegen die Parteien
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