Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
64 Inmere Politik. I. Buch. 
  
Prinzips spannen. Natürlich brauchen die Parteien eine gewisse programmatische Fest- 
legung der von ihnen vertretenen Forderungen und Meinungen, um im Lande, vor allem 
für den Wahlkampf, Klarheit über ihre Ziele und ihre Eigenart zu schaffen. Ohne jedes 
Programm bliebe eine Partei eine unbekannte Größe. Nur die Versteinerung des Pro- 
gramms für die nahen und ferneren Ziele der Parteipolitik zu einem Sostem für die ge- 
samte Politik überhaupt ist vom Ubel. Es gibt verschiedene, vielfach einander entgegen- 
gesetzte Interessen im Volke, und die Bertreter des gleichen Interesses werden sich mit 
Recht zusammenschließen und ihre Forderungen formulieren. Die Formel ist Programm. 
Es gibt verschiedene Ansichten über Staat, Recht und Gesellschaft, über die Ordnung des 
Staatslebens, vor allem in bezug auf die Verteilung politischer Rechte zwischen Volk 
und Regierung. Auch die, die gleiche oder ähnliche Anschauungen vertreten, werden sich 
zusammentun und zu Propagandazwecken ihren Ansichten in wenigen bezeichnenden 
Sätzen Ausdruck geben. Die Sätze sind Programm. Die Verknüpfung von staatlichem 
und wirtschaftlichem Leben bringt es auch mit sich, daß die Vertreter gleicher Interessen 
vielfach gleiche oder ähnliche Staatsanschauungen vertreten. Ihr Programm wird also 
entsprechend umfassender sein können. Man wird auch zugestehen dürfen, daß sowohl 
die beiden konkret historischen Anschauungen von Staat und Gesellschaft, die konservative 
und liberale wie die beiden abstrakt dogmatischen, die ultramontane und sozialdemo- 
kratische eine große Zahl von Tatsachen des politischen Lebens umfassen. Oie betreffen- 
den Parteiprogramme werden also dementsprechend ins einzelne gehen können. Aber 
eine Grenze gibt es auch hier. Eine Unzahl von Vorgängen im Staatsleben entzieht sich 
auch solcher verhältnismäßig weit gespannten programmatischen Erfassung, kann mit 
konservativen Augen schlechterdings nicht anders angesehen werden als mit liberalen. Im 
allgemeinen überwiegt sogar die Zahl derjenigen gesetzgeberischen Aufgaben, bei denen 
es sich um glatte Nützlichkeitsfragen handelt, die von der praktischen politischen Vernunft 
zu beantworten, nicht von der allgemeinen Staatsanschauung der Parteien zu wägen sind. 
Aber eine solche Unabhängigkeit von Parteiprogrammen wird auch für das Detail der 
Gesetzgebung selten zugestanden. Es genügt uns Deutschen nicht, die Parteipolitik auf 
eine gewisse Anzahl praktischer Forderungen und politischer Ansichten festzulegen. Jede 
Partei möchte mit ihren besonderen Ansichten die gesamte Politik umfassen und bis in 
alle Einzelheiten durchdringen. Und nicht nur die Politik. Auch in der Erfassung des 
geistigen, in der Wertung des praktischen Lebens möchten sich die Parteien voneinander 
unterscheiden. Die Parteianschauung soll „Weltanschauung“ werden. Harin liegt eine 
UÜberschätzung des politischen, eine Unterschätzung des geistigen Lebens. Gerade das 
deutsche Volk hat die großen Probleme der Weltanschauung tief und ernst ergriffen wie 
kein anderes Volk. Es hat oft, vielleicht für seine praktischen Interessen zu oft die nüch- 
ternen Fragen der Politik dem Weltanschauungskampf untergeordnet. Es ist anderer- 
seits das erste Volk der Welt gewesen, das das geistige Leben von politischer Bevormun- 
dung freigemacht hat. Wenn es nun die Weltanschauung der Parteipolitik unterordnet, 
wenn es sich dahin bringen will, alles Geschehen in Welt und Leben durch die trübe 
Brille politischer Parteiprinzipien anzusehen, so wird es sich selbst untreu. Der Versuch, 
die Politik, vornehmlich die Parteipolitik, in dieser Weise zu vertiefen, muß zu einer gei- 
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