Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. I. Einführung. 65 
  
stigen Verflachung führen, und hat vielleicht schon dahin geführt. Eine politische Welt- 
anschauung ist ein Nonsens, denn die Welt ist glücklicherweise nicht überall politisch. Und 
eine parteipolitische Weltanschauung kann vollends nicht einmal die politische Welt um- 
spannen, weil es viel zu viel Dinge und Fragen des politischen Lebens gibt, die jen- 
seits aller Parteiprogramme und Parteiprinzipien liegen. Ein englischer Freund sagte 
mir einmal, es fiele ihm auf, daß in den Reden in deutschen Parlamenten das Wort 
„Weltanschauung“ so oft wiederkehre. Es hieße immerfort: „Vom Standpunkt meiner 
Weltanschauung kann ich dies nicht billigen und muß ich jenes verlangen.“ Er ließ sich 
von mir erklären, was deutsche Parteipolitiker unter Weltanschauung verstünden und 
meinte dann kopfschüttelnd: Davon wüßten englische Politiker und Parlamentarier 
nicht viel. Sie hätten verschiedene Ansichten, verträten verschiedene Interessen, verfolg- 
ten verschiedene Zwecke, aber sie führten doch nur praktische Erwägungen, sehr selten 
so hohe Dinge wie Weltanschauung ins Treffen. Wir Deutschen unterscheiden uns in 
diesem Punkte von den nüchternen Engländern tatsächlich nicht etwa durch größere Tiefe 
und GEründlichkeit, sondern durch eine irrige Einschätzung politischer Begriffe. Indem 
wir die Grundsätze der Parteipolitik zum System für die Anschauung alles politischen 
und nichtpolitischen Lebens erweitern, schaden wir uns politisch wie geistig. Politisch 
vertiefen wir die Gegensätze, die wir ohnehin in besonderer Stärke empfinden, dadurch, 
daß wir ihnen einen besonderen geistigen Wert beilegen, und wir verringern uns mehr 
und mehr die Zahl derjenigen Aufgaben im Staatsleben, die sich im Grunde ohne alle 
parteipolitische Voreingenommenheit besser und beilsamer lösen lassen. Wenn wir aber 
auch die Fragen des geistigen Lebens in die Parteipolitik zerren, so bedeutet das den 
Verlust jener geistigen Bielseitigkeit und Großherzigkeit, die dem deutschen Bildungs- 
leben den ersten Platz in der Kulturwelt errungen haben. 
Man ist in Deutschland rasch mit dem Vorwurf der Prinzipienlosigkeit bei der Hand, 
wenn ein Politiker oder Staatsmann unter dem Druck veränderter Verhältnisse eine 
früber ausgesprochene Ansicht ändert oder die Berechtigung von mehr als einer ein- 
zigen Parteianschauung gelten läßt. Die Entwicklung vollzieht sich aber nun einmal unbe- 
kümmert um Programme und Prinzipien. Vor die Wahl gestellt, eine Ansicht zu opfern 
oder eine Torheit zu begehen, wählt ein praktischer Mann besser die erste Alternative. 
Zedenfalls wird sich ein Minister, der für seine Entschlüsse der Nation verantwortlich ist, 
den Luxus einer vorgefaßten Meinung nicht leisten dürfen, wenn es sich darum handelt, 
einer berechtigten Zeitforderung nachzukommen. Und sollte ihm dann ein Widerspruch 
zwischen seiner jetzigen Ansicht und früheren Meinungsäußerungen vorgehalten werden, 
so kann ihm gegenüber Vorwürfen wegen Inkonsequenz, Zickzackkurs, Umfallen und wie 
die Schlagworte der Bulgärpolemik lauten, nur die Rhinozeroshaut anempfohlen wer- 
den, die im modernen öffentlichen Leben ohnedies nützlich zu sein pflegt. Es ist eine durch 
alle Erfahrungen erhärtete Tatsache, daß das wahre nationale Interesse noch niemals 
auf dem Wege einer Partei allein hat gefunden werden können. Es lag immer zwischen 
den Wegen mehrerer Parteien. Es gilt, die Diagonale der Kräfte zu ziehen. Sie wird 
bald mehr nach der Seite dieser, bald nach der Seite jener Partei führen. Ein Minister, 
welcher Partei er auch persönlich zuneigen möge, muß den rechten Ausgleich zwischen 
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