I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 69
als die Aristokratie irgendeines anderen der modernen Staaten. Das kann nur Unge-
rechtigkeit verkennen. Es ist überhaupt abgeschmackt, in unserer Zeit noch Zunker und
Bürger gegeneinanderzustellen. Das Berufsleben und das gesellschaftliche Leben haben
die alten Stände so verschmolzen, daß sie sich gar nicht mehr voneinanderscheiden lassen.
Wenn man aber die Wirksamkeit der alten Stände in der Vergangenheit würdigt, soll
man gerecht sein und jedem das Verdienst einräumen, das ihm gebührt. Der preußische
Adel hat ein Recht, auf seine Vergangenheit stolz zu sein. Wenn er die Gesinnung der
Vorfahren, die Preußen groß gemacht haben, heute in den konservativen Zdealen leben-
dig erhält, so verdient er dafür Dank. Und man soll nicht vergessen, daß es solche alt-
preußische Gesinnung gewesen ist, die die Politik der konservativen Partei in den schwer-
sten Zahren unseres alten Kaisers und seines großen Ministers, in den Konfliktsjahren, ge-
leitet hat. Soweit von einem Recht auf Dankbarkeit in der Politik überhaupt gesprochen
werden kann — und man sollte es eigentlich können —, muß es den Konservativen für
die Unterstützung zugesprochen werden, die Bismarck im Jahre 1862 bei ihnen fand.
Oas betone ich ausdrücklich, gerade weil ich am Schluß meiner amtlichen Laufbahn in
Gegensatz zu den Konservativen treten mußte, und weil ich unerschüttert der Uberzeugung
bin, daß die konservative Fraktion im Jahre 1909 in die Zrre ging. ch möchte unter-
scheiden und unterschieden wissen zwischen meiner allgemeinen Stellung zu den konser-
vativen Anschauungen, meiner Gesinnung gegenüber der konservativen Partei und mei-
nem Urteil über einzelne Phasen der konservativen Fraktionspolitik. Auch wer die
konservativen Grundanschauungen so hoch stellt wie ich und wie ich gesunden konservativen
Gedanken einen weitreichenden Einfluß auf die Gesetzgebung wünscht und einen solchen
oft gefördert hat, wird doch die Tatsache, daß 1909 die Brücken zwischen rechts und links
abgebrochen wurden, für ein durch seine Folgen verhängnisvolles Ereignis halten. Die
ersprießlichsten Zeiten unserer inneren Politik waren immer die des Zusammengehens
zwischen Rechts und Links. Ich denke hierbei nicht nur an die Zeit der sogenannten Block-
politik, sondern weiter zurück an bekannte bedeutsame Phasen der Bismarckischen Zeit.
Konservativismus und Liberalismus
sind nicht nur beide berechtigt, son-
dern beide für unser politisches Leben notwendig. Wie schwierig es ist, bei uns
zu regieren, geht ja schon daraus hervor, daß in Preußen auf die Dauer nicht
ohne die Konservativen, im Reich auf die Dauer nicht ohne die Liberalen regiert
werden kann. Auch die liberalen Gedanken dürfen in der Nation niemals ver-
schwinden. Auch starke liberale Parteibildungen sind uns unentbehrlich. Wurzelt der
Konservativismus vornehmlich im alten preußischen Staatssinn, so der Liberalismus
in der geistigen Eigenart des deutschen Volkes. Auch seine besten Ideale haben ihren
unvergänglichen Wert. Wir Deutschen wollen nicht die starke Verteidigung der Freiheit
des Individuums gegenüber staatlicher Bindung entbehren, wie sie der Liberalismus
von jeher vertreten hat. Auch der Liberalismus hat sich ein historisches Recht und sein
Recht auf Dankbarkeit erworben. Es waren die Liberalen, die den deutschen Einheits-
gedanken zuerst ausgesprochen und in der Nation verbreitet haben. Sie haben die uner-
Konservativismus und Liberalismus.
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