Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
70 Innere Politik. I. Buch. 
läßliche Vorarbeit geleistet. Das Ziel konnte auf ihren Wegen nicht erreicht werden. Da 
mußte konservative Politik eingreifen, um, wie sich Bismarck ausgedrückt hat, den libe- 
ralen Gedanken durch eine konservative Tat zu verwirklichen. Mit gutem Recht kann das 
Deutsche Reich selbst als das erste, das größte und gelungenste Stück gemeinsamer konser- 
vativer und liberaler #Arbeit angesehen werden. 
Es ist gegenwärtig in beiden Lagern üblich, Konservativismus und Liberalismus 
als die beiden grundverschiedenen Staatsauffassungen anzusehen und zu behaupten, daß 
eine jede vom Gegensatz zur anderen lebt. Damit kommt man dem Verhältnis zwischen 
deutschen Konservativen und deutschen Liberalen nicht bei. Träfe das zu, so müßten 
die beiden Parteien und die ihnen zugesellten Gruppen um so stärker sein, je schroffer ihr 
Gegensatz ist, je feindseliger sie sich gegeneinander stellen. Nun ist aber gerade das Gegen- 
teil der Fall. Bon wenigen außerordentlichen Situationen abgesehen, sind Konservative 
und Liberale immer dann als Parteien am stärksten, parlamentarisch am einflußreichsten 
gewesen, wenn sie zusammengingen. Im Kartell und im Block waren die beiden Par- 
teien am stärksten. Und die Zeiten ihres Zusammengehens waren auch immer die, in 
denen die allgemeine nationale Stimmung am freudigsten und am zuversichtlichsten ge- 
wesen ist. Gewiß kann nicht alles politische Heil, nicht die Lösung jeder gesetzgeberischen 
Aufgabe von konservativ-liberaler Zusammenarbeit erwartet werden. Es wird immer 
wieder der Fall eintreten, daß sich in einzelnen, auch in wichtigen Fragen die konser- 
vativen und die liberalen Wege trennen. Denn die Gegensätze bestehen nun einmal und 
bestehen mit Recht. Es wäre auch grundfalsch, alle großen Leistungen auf dem Felde der 
inneren Politik auf das Konto konservativ-liberaler Zusammenarbeit schreiben zu wollen. 
An unserer sozialpolitischen Gesetzgebung, an vielen unserer Wehrvorlagen, vor allem an 
der Bewilligung der Flotte hat das Zentrum hervorragenden und nicht selten entschei- 
denden Anteil. Aber der Hader zwischen Konservativen und Liberalen ist noch immer 
verhängnisvoll gewesen: für die beiden Parteien selbst, für den Gang unserer inneren 
Politik und last not least für die Stimmung in der Nation. 
ODie liberal-konservativen Gegensätze werden nie verschwinden. Sie haben ihren 
bistorischen und ihren praktischen Sinn. Ihre Reibung ist ein Teil unseres politischen 
Lebens. Aber man soll diese Gegensätze nicht unnütz aufbauschen und nicht so große 
Dinge wie unversöhnliche Weltanschauungen aus ihnen machen. Damit entfernt man sich 
von der nüchternen politischen Wirklichkeit. Selbst der konfessionelle Gegensatz, der seit 
vierhundert Zahren durch die Nation geht, und den die Nation nach ihrer ganzen Ver- 
anlagung immer schwer genommen hat, tritt im praktischen politischen Leben hinter 
den Forderungen des Augenblicks zurück. Im Sozialismus haben wir tatsächlich einen 
von unserer bürgerlichen Auffassung von Recht und Sitte, Religion, Gesellschaft und 
Staat unterschiedenen Zdeenkreis, den man eine andere Weltanschauung nennen kann. 
Ich habe in dieser Verbindung selbst einmal von einem Weltanschauungsgegensatz ge- 
sprochen. Aber daß einen liberalen Bürgersmann von einem konservativen Bürgers- 
mann eine Weltanschauung trennen soll, glaubt ja im Ernst kein Mensch. Dazu sind der 
gemeinsamen Gedanken und Zdeale, besonders in nationaler Hinsicht, zu viele, und 
das weite Reich des deutschen Geisteslebens in Wissenschaften und Künsten gehört 
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