I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 73
und Negation verharren und von der Regierung in dieser Stellung belassen werden,
verknöchern schließlich in ihren Programmsätzen und entziehen, solange sie nicht ganz
absterben, dem lebendigen Körper unseres politischen Lebens wertvolle Kräfte. In eine
solche Stellung war im Lauf der letzten Jahrzehnte auch gegenüber wichtigen nationalen
Lebensfragen der linke Flügel unseres Liberalismus geraten. Die Aufgabe, den Frei-
sinn national einzurangieren, mußte einmal in Angriff genommen werden. Sie wurde
durch die Blockpolitik gelöst, und zwar über die Zahre ihres Bestandes hinaus bis auf
diesen Tag, wo bei einer sehr erheblichen Armeevermehrung der Freisinn sich nicht ausschloß.
Hie Blockpolitik. Die Parteikonstellation, die mit einem dem Sprachschatz der
französischen Parlamentarier entlehnten Aucedruck vielleicht
nicht sehr glücklich als der „Block“ bezeichnet worden ist, war ein Vorgang nicht nur von
hervorstechend tppischer Bedeutung, sondern auch von aufklärendem Wert. Die Frage,
ob die Blockära mehr als eine Episode war, möchte ich hier nicht funditus erörtern, schon
weil ich ungern prophezeie. Daß zu einer, wenn nicht gleichen, so doch ähnlichen Lage
die Ereignisse immer wieder hindrängen können, dürfte kaum zu bestreiten sein. Damit
soll die Blockpolitik nicht als Universalmedizin für jede irgend vorkommende innerpoli-
tische Situation empfohlen werden. Der begrenzten Dauer jener Kombination war
ich mir immer bewußt, schon, weil ich die dauernde Ausschaltung des Zentrums nie in
meine Rechnung gestellt hatte. Aber auf die wichtigsten Aufgaben unserer inneren DPo-
litik scheint mir von jener allzu kurzen Epoche aus ein besonderes Licht zu fallen. Diese
wichtigsten Aufgaben sind mir und der großen Mehrheit meiner Mitbürger: die natio-
nalen Fragen und der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Es gibt daneben gewiß
noch eine Fülle anderer Aufgaben. Aber ihre Lösung kann die Lösung jener großen Auf-
gaben nie ersetzen. Tiefer gesehen und recht begriffen, ist unsere innere Politik im letzten
Ende jenen beiden großen Fragen untergeordnet.
Es ist zu unterscheiden zwischen dem unmittelbaren Anlaß und den mittelbaren Ur-
sachen, die zu der Kombination von 1907 geführt haben. Oie Ereignisse, die dit Reichs-
tagsauflösung im Dezember 1906 notwendig gemacht hatten, sind noch in aller Erinne-
rung. Durch das Verhalten des Zentrums war eine unhaltbare Situation geschaffen,
ein Entschluß der Regierung von mehr als nur vorübergehender Tragweite erforderlich
geworden. Die Einmischungsversuche des Zentrums in die innere Kolonialverwaltung
hatten allmählich einen Grad erreicht, der schon im Interesse der Disziplin nicht länger
geduldet werden konnte. Die Forderung für die im Aufstandsgebiet gegen einen grau-
samen Feind unter schweren Entbehrungen heldenmütig kämpfenden Truppen wurde
von Zentrum und Sozialdemokraten abgelehnt. Dazu kam endlich der Versuch, in
die kaiserliche Kommandogewalt einzugreifen. Es ging um Staatsgrundsätze, die nicht
preisgegeben werden dürfen. Eine Regierung, die in solchem Falle nicht die äußersten
Mittel zum Schutz einzusetzen versteht, verdient den Namen nicht. Ich bin mir keinen
Augenblick darüber im unklaren gewesen, welche Unbequemlichkeit darin lag, durch die
Keichstagsauflösung mit einer so mächtigen und zähen Partei wie dem Zentrum zu
brechen. Mein politisches Leben würde sich behaglicher gestaltet haben, wenn ich mich
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