VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 209
teilung, Absatz im großen und in die Ferne, Großkredit der Effektenbanken, Massenkonsum
und großstädtische Zentralisation der arbeitenden Bevölkerung. Von einem zentralen
Punkte aus, der für die Beschaffung der IArbeiter und Rohstoffe und für den Verkehr
möglichst günstig gelegen ist, in die Ferne und Nähe steigende Mengen absetzen zu können,
war die wichtigste Voraussetzung für die Industrie. Damit aber vollzog sich eine folgen-
reiche geographische Gruppierung und Standortsverschiebung des deutschen Groß-
gewerbes. Das Handwerk saß früher in allen Städten in ziemlich gleichmäßiger Ver-
teilung über das ganze Land hin (wenn auch bestimmte Zweige, z. B. des Kunsthand-
werks, an manchen Orten mehr blühten als anderwärts). Die ältere Industrie war an
Wasserläufe und Waldungen gebunden. In der mittleren Epoche — der 50er bis zu
den 80er JZahren — waren es dann besonders einige Großstädte, an deren Peripherien
sich die gualmenden Fabrikschornsteine erhoben. Die jüngste Entwicklung aber brachte
teilweise eine starke Industrialiserung bestimmter Landstriche und in ihnen auch der
Dörfer. In erster Linie waren es die Steinkohlenflöze, über denen sich die ins Gigantische
wachsenden Industriebezierke mit teilweise „amerikanischem“ Wachstum erhoben. Zu-
gleich bildete sich der Unterschied zwischen gewerblichen und landwirtschaftlichen Pro-
vinzen stärker aus. Während junge, industrieerfüllte Städte rasch wuchsen, Knoten-
punkte des Verkehrs wurden und als Großstädte für die gesamte Kultur große Bedeutung
erlangten, traten manche alten, aber für eine gewinnbringende Industrialisierung un-
günstig gelegenen Orte in den Hintergrund und blieben in ihrer Zunahme hinter dem
Keichsdurchschnitt zurück, während sich um jene Städte immer mehr die Volksmassen
kristallisierten. Mit ihrem Wachstum mußte sich der Verkehr beleben; je mehr Eisen-
bahnen, Schiffe und Kraftwagen aber tagein, tagaus dort passierten, desto größer wurde
der Anreiz für weitere Industrialisierung und Menschenanhäufung. Gerade aus den bis-
her bäuerlichen Schichten der Bevölkerung ging ein immer steigender Bruchteil zur In-
dustrie über und wurde damit in seinem ganzen persönlichen Typus wesentlich verändert.
Bewirkte also der Fortschritt der Industrie eine tiefreichende Umgestaltung der
Bevölkerungsgruppierung im Inlande, dergestalt, daß man geographisch heute in Deutsch-
land nicht nur vorwiegend landwirtschaftliche und vorwirgend industrielle Gebiete unter-
scheiden, sondern auch die Bezirke der Rohstoffbearbeitungsindustrie von denen der Fer-
tigwarengewerbe — wir kommen darauf zurück — unterscheiden kann, so bildet einen
weiteren Unterschied gegenüber der alten Handwerkerzeit und den früheren Industrie-
perioden die teilweise überaus enge Verknüpfung mit dem Auslande. Bei der Konjunk-
turentwicklung war bereits davon die Nede. Die Weltkonjunktur beherrschte tatsächlich
die Preisgestaltung bei den meisten Waren, wenn auch Schutzzölle, Unternehmerver--
bände und Transportpolitik dem Inlande eine gewisse Sonderstellung zu geben suchten.
Aber es ist noch etwas anderes dabei zu erwähnen: die internationale Arbeitsteilung
in der Warenproduktion. Nur in Spezialuntersuchungen könnte dieses — übrigens
noch ziemlich wenig wissenschaftlich bearbeitete — Gebiet näher behandelt werden.
Hier sei nur kurz erwähnt, daß in manchen Zweigen der Textilbranche, der Maschinen-
(z. B. der Fahrrad-) Industrie, der Konfektion usw. ein so dichtmaschiges Gewebe inter-
nationaler Lieferungsbeziehungen besteht, daß man nur von einem internationalen
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