Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
318 Versicherungswesen. VI. Buch. 
  
gerechnet auf jeden Deutschen 1¾ Versicherungen kommen. Wo man noch vor wenigen 
Jahrzehnten nur mit Hunderttausenden rechnete, betragen heute die Leistungen der 
deutschen Versicherung an jedem Tage durchschnittlich Millionen. Aus den Kassen der 
deutschen Sozialversicherung wie aus denen der deutschen Privatversicherung werden im 
Zubiläumsjahr weit über je 800 Millionen Mark an Entschädigungen zur Auszahlung 
gebracht werden, mithin zusammen rund 133 Millionen Mark pro Monat oder 4,4 Millionen 
Mark pro Tag. 
Eine neue Epoche der Versicherung kann 
möglicherweise durch die allgemeine Zu- 
lassung und Ausgestaltung der Versicherung des Gewinnentgangs beginnen. Während 
man in den Kreisen der Versicherungspraxis vor noch nicht allzulanger Zeit gegen 
die Versicherung entgehenden Gewinnes geradezu zu Felde zog, hat man sich im An- 
schluß an die veränderte Sachlage, zufolge der neuen Versicherungsvertragsgesetzgebung 
eines besseren besonnen und auch in Deutschland, wenngleich etwas bedächtig und vor- 
sichtig, eine Mietverlust-- und eine Betriebsunterbrechungs-Versicherung eingeführt. 
Wenn der Satz zu Recht besteht, daß eine Versicherung um so besser, privat- und volks- 
wirtschaftlich um so wertvoller ist, je umfassender die Deckung im Schadensfalle ausfällt, 
dann würde sich namentlich die Feuerversicherung erst künftig in zahlreichen Fällen 
ihrem Zdeal nähern. Denn ein Brand, der sich auf irgendeine Fabrik, einen Gewerbe- 
betrieb, ein Warenlager, ein Handelsgeschäft erstreckt, wird in der überwiegenden Mehr- 
zahl der Fälle nicht nur Sachschaden hervorrufen, sondern auch Verluste zufolge der 
Unterbrechung des Betriebes bis zur Zeit der Wiederherstellung, welche den Betrag der 
Sachschäden oft erreichen, wohl häufiger noch bei weitem übertreffen. Oie angedeutete 
Versicherungsmöglichkeit ist eine Errungenschaft der jüngsten Zeit. 
Neue Bahnen der Versicherung. 
  
Versicherung und Volkscharakter. Es ist ohne weiteres verständlich, daßz der 
Charakter eines Volkes sich auch in ge- 
wisser Weise in seinem Versicherungswesen ausprägen muß. Ein Land, das einem 
Eingriff des Staates in die Privatsphäre gänzlich abhold ist, wird naturgemäß keine 
öffentliche Versicherung besitzen, während ein anderes Land, das dem Staat große Auf- 
gaben auf dem Gebiet der sozialen Politik zuweist, eine andere Versicherungsorganisation 
sein eigen nennen wird. Deutschland zeigt, wie wir wohl vermuten dürfen, die richtige 
Mischung zwischen dem Individual- und dem Sozialsystem der Versicherung. 
Ein weiteres, für Deutschland erfreuliches Ergebnis ergibt sich, wenn man seine Le- 
bensversicherungen etwa mit denen vergleicht, welche in Frankreich vorhanden sind. Dann 
stellt sich nämlich heraus, daß bei uns die Lebensversicherung vorwiegend als Einrichtung 
zum Schutz der Familie, zugunsten der Hinterbliebenen gilt, weit weniger aber als in 
Frankreich als eine Einrichtung rein egoistischer Art benutzt wird, um sich selbst und nur 
sich selbst für seine alten Tage hohe Renten zu verschaffen und so ohne Rücksicht auf die 
Familie das vorhandene Kapital aufzuzehren. An Lebensversicherungen, welche Kapital- 
auszahlungen auf den Todes- oder den Erlebensfall garantieren, weisen die deutschen 
  
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