Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 49 
  
welches heute noch zahllose Volksgenossen, wenn auch zunächst nur äußerlich mit der 
evangelischen Kirche verknüpft, würde zerschnitten. Große Massen der Bevölkerung 
würden dann völlig kirchenlos — eine Beute des Naturalismus werden. Eine weitere 
Konsequenz wäre die Aufhebung der theologischen Fakultäten und damit die 
Seminarisierung der theologischen Bildung. Welche Rückwirkung diese Folgen 
nicht nur auf das religiös-kirchliche, sondern überhaupt auf das kulturelle Leben unseres 
Volkes ausüben würde, kann gar nicht pessimistisch genug vorgestellt werden. 
Kirchlicher „Zweckverband“. Ebenso undurchführbar erscheint das neueste 
kirchenpolitische Projekt, welches von ver- 
schiedenen Seiten als All-Heilmittel für unsere kirchlichen Schäden empfohlen wird. 
Danach soll die Kirchengemeinschaft zwischen den Alt- und Reugläubigen nur noch in 
Form eines die gemeinsame Regelung der äußerlichen Geschäfte beider Teile bezielen- 
den Zweckverbandes fortbestehen, im übrigen aber eine völlige kirchliche Scheidung 
zwischen „Positiven“ und „Liberalen“ durchgeführt werden. Aber dieser Vorschlag 
geht von der grundfalschen Voraussetzung aus, als wären „positiv“ und „liberal“ auch 
in Wirklichkeit und nicht nur in den Köpfen der Ideologen zwei scharf abgegrenzte, sich 
absolut ausschließende religiöse Standpunkte, unter die sich alle Theologen und Laien 
subsumieren ließen, und stellt zudem die bedenkliche Aufgabe, die momentanen Gegen- 
sätze in der Kirche in Permanenz zu erklären, anstatt sie zu überwinden. Auch müßte ja 
eine Kirche, welche die innere Gemeinschaft grundsätzlich preisgibt, die äußere aber aus 
praktischen Gründen festhält, als ein sehr opportunistisches Gebilde erscheinen. 
  
Gesunde Kirchenpolitik. Die Aufgabe einer gesunden Kirchenpolitik 
kann ebensowenig die Repristination der altprote- 
stantischen Lehrbekenntniskirche, als die immer stärkere Isolierung und Absperrung der 
in der Kirche vorhandenen Parteien und Sonderbestrebungen sein. Die Nichtung, die 
sich für sie aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte immer deutlicher ergibt, ist eine 
größere Zusammenfassung und Konzentrierung der in ihr lebendigen Kräfte. Dazu 
bedarf es freilich vor allem der Überwindung der inneren Gegensätze in der Kirche, 
in unserem kirchlichen Leben. Sie ist freilich auf dem Boden einer bloß rückwärts 
schauenden Restauration ebenso unmöglich, wie vom Standpunkte eines Radikalismus 
aus, der mit den religiösen Grundlagen und der bistorischen Kontinuität des kirchlichen 
Lebens gebrochen hat. 
  
nicht Lehreinheit, sondern Der evangelische Kirchenbegriff hat nament- 
lich im Laufe der Entwicklung des letzten Fahr- 
hunderts viel stärker innerlich als äußerlich eine 
bedeutsame Wandlung in Richtung auf seine evangelische Vertiefung und Er- 
weiterung durchgemacht. Das gilt es vor allem zu erkennen, wenn man den Uber- 
gang vom Alten zum Neuen finden will. Die evangelische Kirche ist trotz aller Er- 
schütterungen ihres Körpers nicht tot. Sie lebt allerdings nicht mehr in erster Linie 
  
Lebensgemeinschaft. 
  
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