VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 49
welches heute noch zahllose Volksgenossen, wenn auch zunächst nur äußerlich mit der
evangelischen Kirche verknüpft, würde zerschnitten. Große Massen der Bevölkerung
würden dann völlig kirchenlos — eine Beute des Naturalismus werden. Eine weitere
Konsequenz wäre die Aufhebung der theologischen Fakultäten und damit die
Seminarisierung der theologischen Bildung. Welche Rückwirkung diese Folgen
nicht nur auf das religiös-kirchliche, sondern überhaupt auf das kulturelle Leben unseres
Volkes ausüben würde, kann gar nicht pessimistisch genug vorgestellt werden.
Kirchlicher „Zweckverband“. Ebenso undurchführbar erscheint das neueste
kirchenpolitische Projekt, welches von ver-
schiedenen Seiten als All-Heilmittel für unsere kirchlichen Schäden empfohlen wird.
Danach soll die Kirchengemeinschaft zwischen den Alt- und Reugläubigen nur noch in
Form eines die gemeinsame Regelung der äußerlichen Geschäfte beider Teile bezielen-
den Zweckverbandes fortbestehen, im übrigen aber eine völlige kirchliche Scheidung
zwischen „Positiven“ und „Liberalen“ durchgeführt werden. Aber dieser Vorschlag
geht von der grundfalschen Voraussetzung aus, als wären „positiv“ und „liberal“ auch
in Wirklichkeit und nicht nur in den Köpfen der Ideologen zwei scharf abgegrenzte, sich
absolut ausschließende religiöse Standpunkte, unter die sich alle Theologen und Laien
subsumieren ließen, und stellt zudem die bedenkliche Aufgabe, die momentanen Gegen-
sätze in der Kirche in Permanenz zu erklären, anstatt sie zu überwinden. Auch müßte ja
eine Kirche, welche die innere Gemeinschaft grundsätzlich preisgibt, die äußere aber aus
praktischen Gründen festhält, als ein sehr opportunistisches Gebilde erscheinen.
Gesunde Kirchenpolitik. Die Aufgabe einer gesunden Kirchenpolitik
kann ebensowenig die Repristination der altprote-
stantischen Lehrbekenntniskirche, als die immer stärkere Isolierung und Absperrung der
in der Kirche vorhandenen Parteien und Sonderbestrebungen sein. Die Nichtung, die
sich für sie aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte immer deutlicher ergibt, ist eine
größere Zusammenfassung und Konzentrierung der in ihr lebendigen Kräfte. Dazu
bedarf es freilich vor allem der Überwindung der inneren Gegensätze in der Kirche,
in unserem kirchlichen Leben. Sie ist freilich auf dem Boden einer bloß rückwärts
schauenden Restauration ebenso unmöglich, wie vom Standpunkte eines Radikalismus
aus, der mit den religiösen Grundlagen und der bistorischen Kontinuität des kirchlichen
Lebens gebrochen hat.
nicht Lehreinheit, sondern Der evangelische Kirchenbegriff hat nament-
lich im Laufe der Entwicklung des letzten Fahr-
hunderts viel stärker innerlich als äußerlich eine
bedeutsame Wandlung in Richtung auf seine evangelische Vertiefung und Er-
weiterung durchgemacht. Das gilt es vor allem zu erkennen, wenn man den Uber-
gang vom Alten zum Neuen finden will. Die evangelische Kirche ist trotz aller Er-
schütterungen ihres Körpers nicht tot. Sie lebt allerdings nicht mehr in erster Linie
Lebensgemeinschaft.
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