Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Entwicklung der Chirurgie. 29 
  
zurück, in welchem Gocht zum ersten Male die Röntgenstrahlen zur Behandlung des 
Krebses heranzog. Sehr bald zeigte sich, daß man es hier mit einem höchst wirksamen 
Mittel zu tun hatte, doch war wegen der schweren Schädigungen durch die NRöntgen- 
strahlen Vorsicht geboten, um so mehr, ale diese Strahlen nicht nur ausgedehnte, schwer 
heilbare Geschwüre, sondern auch echte Krebse hervorzurufen vermögen, die schon so 
manchem, um unsere Kenntnis der Röntgenstrahlen hochverdienten Arzte das Leben 
gekostet haben. Durch weitere Forschungen lernte man die Schädigungen nach Möglich- 
keit vermeiden, und gleichzeitig fand man Verfahren, welche die Röntgenstrahlen nicht 
nur an der Körperoberfläche, sondern auch in der Tiefe ihre Wirkung entfalten lassen. 
Es ist deshalb heute als Regel anzusehen, daß man der Operation des Krebses eine sorg- 
fältige Bestrahlungsbehandlung folgen läßt. Die Zahl der Rezidive nach Krebsoperationen 
scheint sich dadurch in der Tat einschränken zu lassen. 
Große Erwartungen wurden auch hinsichtlich der Krebsbekämpfung an die Entdeckung 
des Radiums geknüpft; sie haben sich bisher nicht völlig erfüllt, hauptsächlich deshalb, 
weil die Beschaffung eines ausreichend großen Quantums Radium mit enormen Unkosten 
verbunden ist. Dagegen scheint nach den neuesten Erfahrungen das zwar ebenfalls kost- 
bare, aber doch nicht ganz unerschwingliche Mesothorium in hohen Dosen eine Einwirkung 
auf den Krebs zu haben, wie wir sie bisher bei keinem anderen Mittel außer dem Radium 
kennen gelernt haben. Oie auf dem letzten Gynäkologenkongreß bekanntgegebenen Erfolge 
der Frauenärzte bei Gebärmutterkrebs übertreffen alles, was bisher beobachtet worden ist. 
Es ist zu hoffen, daß durch die Entdeckung des Mesothoriums, die wir Otto Hahn in Char- 
lottenburg (1905) verdanken, ein wahrer Fortschritt in der Bekämpfung des furchtbarsten 
Feindes der Menschheit angebahnt worden ist. Namentlich die Kombination der frühstmög- 
lichen Operation mit der vervollkommneten Strahlungsbehandlung dürfte die Resultate 
der Krebstherapie in Zukunft erfreulicher gestalten. Da wir aber mit den Tausenden 
von Krebsheilmitteln, die im Laufe der Zeit empfohlen wurden, und die auch während 
der letzten Zahre wieder in großer Zahl aufgetaucht sind, bisher nur Enttäuschungen er- 
lebt haben, so wollen wir auch hier unsere Hoffnungen nicht zu hoch schrauben, damit 
wir nicht, mit zahllosen unglücklichen Kranken und ihren Angehörigen, wieder zu schmerz- 
licher Resignation genötigt werden. 
Es würde den Rahmen dieses Uberblickes weit überschreiten, wollte ich auch nur 
mit annähernder Vollständigkeit die Fortschritte schildern, welche die Chirurgie der 
einzelnen Körperteile im Laufe des vergangenen Vierteljahrhunderts gemacht hat. 
Es gibt kein Organ, kein Elied des menschlichen Körpers, dessen Thirurgie in diesem Zeit- 
raume nicht eine wesentliche Förderung, oder gar eine völlige Umgestaltung erfahren 
hätte. Deshalb muß ich mich darauf beschränken, einige besonders wichtige Kapitel als 
Beispiele herauszugreifen. 
Gehirn. Das Zentralorgan des menschlichen Körpers, welches alle seine Funk- 
tionen regelt und erhält, ist das Gehirn. Deshalb galt es noch, vor 
kurzem als ein „Noli me tangere“, bis das Tierexperiment lehrte, daß operative Ein- 
  
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