Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. 113 
  
das hintere Paar so vollständig verkümmert ist, daß es nur in Gestalt von Knochen erkenn- 
bar wird, die tief im Fleische des Körpers drinstecken, für das Tier somit ganz nutzlos sind. 
Warum besitzt ein Wal diese völlig rudimentär gewordenen hinteren Extremitäten? 
Eine alte Naturauffassung lehrte, daß vier Extremitäten unbedingt zum Typus oder 
zur Zdee der Säugetiere gehörten; die Deszendenztheorie sucht es wahrscheinlich zu 
machen, daß die Wale von andern schwimmenden Säugetieren abstammen, bei 
denen auch die hintern Extremitäten als Flossen dienten, daß aber auf dem Wege 
dieser Abstammung die hintern Eliedmaßen verkümmerten. Beachtenswert bleibt, 
daß in allen Fällen die rudimentären Organe uns als Rückbilbungen vollkommener 
Organe erscheinen, keineswegs aber als die Anfänge einer aufsteigenden Entwicklung. 
Anfänge von Organen, deren Ausbildung von der Zukunft zu erwarten wäre, kennt 
man nicht. 
Wenn man an dem Satz festhält, daß jedes Lebewesen von einem andern Lebewesen 
hervorgebracht wird, so entsteht gleichsam von selbst der Gedanke, daß aus anfänglich 
gegebenen Urzellen die heute lebende Fülle der Pflanzen und Tiere nach Analogie der 
individuellen Entwicklung sich hervorgebildet habe; fraglich bleibt, ob diese Aufwärts- 
entwicklung immer allmählich vor sich gegangen ist, ob nicht auch Sprünge angenommen 
werden müssen, wie von der Raupe zum Schmetterling. Macht man Ernst mit dem Ana- 
logieprinzip, so wird man die Stammesentwicklung ebensogut 
inneren Ursachen und Impulsen zuschreiben müssen, wie diese 
in der Zndividualentwicklung vorherrschen. Damit steht im Einklang das Ergebnis der 
neueren Forschung, daß durch äußere Umstände bei Pflanzen herbeigeführte Abände- 
rungen sich nicht vererben. ODie Erfahrung zeigt, daß, wo eine neue erbliche Rasse auf- 
tritt, die Ursachen der Abänderung innere waren, und daß diese Ursachen vorläufig 
nicht weiter analpsierbar sind. Von den Kreuzungen ist hbierbei abgesehen. 
Wie Schiller einst zu Goethe sagte: Ihre Metamorphose der Pflanzen ist keine Tat- 
sache, sondern eine Idee, so muß auch von der Deszendenzlehre in ihrer gegenwärtigen 
Phase bekannt werden, daß sie eine IZdee ist, von deren Richtigkeit man felsenfest über- 
zeugt sein kann, die sich aber nicht als Tatsache beweisen läßt. Doch indem wir die organi- 
sierten Einzelwesen werden sehen, immer wieder werden und immer nur werden, über- 
trägt eine denkende Phantasie diese Anschauung auch auf die Geschlechter der 
Pflanzen und Tiere. Man glaubt an diese Zdee so fest, wie die Chemiker an ihre 
Atome und Moleküle. Es läßt sich Dichtung neben der Wahrheit auch aus der Wissen- 
schaft nicht ganz verbannen: „Kühn durch das Weltall steuern die Gedanken“. 
Innere Impulse. 
  
Her Mensch. Daß bei allgemeiner Geltung der Entwicklungs- und Abstammungs- 
lehre auch der Mensch in die Abstammungslehre einbezogen wird, 
ist eine einfache Folgerung. Wenn im Laufe der Stammesentwicklung der mencchliche 
Geist einst aus einer Tierseele oder vielmehr aus den Anlagen derselben hervorquoll, 
so ist dies an sich nicht wunderbarer, als seine Entstehung im Laufe der individuellen 
Entwicklung des Menschen. Die hoppothetischen tierischen Vorfahren des Menschen kennen 
wir zur Zeit aber nicht und werden sie vielleicht nie kennen lernen. 
  
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