4 Die Literatur. XI. Buch.
und dort stellt sie sich nur auf ihr eigenes, frei schwebendes, aus eigenen Mitteln
schöpfendes Vermögen. Auf der einen Seite sehen wir Dichter aus dem Born heiterer
Lebensfreude trinken, aus den Tiefen deutschen Gemütes voll Sinnigkeit und Glaubens---
innigkeit schürfen, auf der anderen werden unsere Sinne und Nerven gepeitscht, wie von
Straußscher Musik oder Reinhardts Bühnenkunst oder dem Hezxensabbat der Kinos. Talente
erblühten allüberall in den verschiedensten Formen und Abstufungen der Oichtung, aber
das erlösende, bahnweisende Genie fehlt ebenso wie auch sonst die harmonisch geschlossene,
geistige Erfassung der Weltzusammenhänge. Brennende Sehnsucht durchzieht die Fülle all
der rastlosen Arbeit und die Fülle spielerischer Träume, in denen dekadentes, sich selbst
genießendes Isthetentum sich wiegt. Gewannen Wissenschaft und Technik immer mehr die
Herrschaft über Raum und Zeit und Naturkräfte, so eroberte die Poesie doch nicht minder
neue Stoff-Gebiete. Die Welt der Großstadt in allen ihren Licht- und Schattenseiten,
die Welt der Industrie, der Maschine, aber auch der Natur in ihren geheimsten Licht-
und Farbenreizen und in der winterlichen Pracht ihrer Berge, die Seelenwelt des
Kindes, die feinsten Abstufungen des Bewußten und Unbewußten, ja des Unter- und
Überbewußten, die dunklen Trieblabyrinthe, eine Unzahl von Problemen sozialer und
ethischer Art. Wer möchte bei der Fülle anstürmender Fragen, von denen die Dichter
Überwältigt wurden, schon so bald Sieg und Klarheit erwarten und fordern? Wer
möchte andrerseits den Fortschritt verkennen, der in der Wandlung der Sprache, in der
Kunst, sie jeder Stimmung anzugleichen und den tiefsten Empfindungen Ausdruck zu
leihen, sich kundgibt? Man sucht Eigenstil und ringt damit, auch die Sprache als
eigene Macht in sich zu erleben.
In einer Zeit, wo alles in die Weite und Breite, weniger in die Tiefe strebt, wo die
Daseinsbedingungen soviel schwieriger und verwickelter geworden sind, werden die Men-
schen seltener, die abseits von dem wilden wirtschaftlichen Kampfe und allem Hasten
und Jagen stehen, die sich bei bescheidenem Auskommen den höchsten Luzus gönnen,
eine dem Ideal dienende Seele zu haben, ja man möchte manchmal wähnen, es werde
kälter und unwirtlicher auf unserer Erde, seit ihr diese beseelteren Angesichte zu fehlen be-
ginnen. Und doch; wer sie sucht, wird sie auch im Leben, auch in unserer Dichtung finden.
OHie 80er Fahre. Einen Grenzstein bedeutet für diese das Oreikaiserjahr 1888
gerade nicht, aber sehr wohl scheiden sich jene, die als Knaben
die ruhmvolle Zeit Wilhelms I. und Bismarcks verlebten, von den Ateren, die in einer
politisch matten Epoche wurzelten. So war es ein begeisterter ISdealismus und hoch-
erhobener Baterlandssinn, der in der Seele der beiden Brüder Heinrich und
Julius Hart glühte, die aus dem stillen, engumhegten Frieden von Münster in die
Großstadt Berlin einzogen, von ihren mächtigen Wogen sich umbrausen ließen und
in dem Bewußtsein, eine neue Zeit müsse auch für die Literatur sich anbahnen,
einen großen Kreis gleichstrebender junger Genossen (wie Bölsche, Dehmel, Halbe,
Hartleben, Gerh. Hauptmann, Hegeler, v. Polenz usw.) um sich sammelten, Zeit-
schriften gründeten und wider Scheingrößen des Tages ihre kritischen Waffengänge
richteten. Uberall lag Zündstoff genug, und bald loderte er auch in München auf, wo
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