Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
XI. Buch. Malerei und Plastik. 51 
  
Oolmetscher des Sollens und Wollens der Völker schilderten demzufolge das Leben 
dieser Massen. Im Jahre 1888 sah man auf einer Ausstellung 86 Genrebilder, unter 
diesen war auf 65 das Leben der Bauern, der Arbeiter und der dienenden Klasse dar- 
gestellt. Da es sich in diesem Falle meistenteils um eine Schilderung von verhältnis- 
mäßig wenig bewegten Menschen handelte, die sich vielfach im Freien oder im neuzeit- 
lichen Hellraum aus Glas und Eisen aufbielten, so konnte die Lichtmalerei überdies 
etwas unbekümmerter ihren besonderen Zielen nachgehen, d. h. auch den Menschen 
als Lichtträger und Raumwert verwenden. Immerhin stieß der Impressionismus bei 
der Interieurmalerei von vornherein auf Widersprüche. Es gab modernste Künstler, 
die erklärten, im Zimmer gäbe es, trotz der Eselsbrücke des holländischen Fensters, keine 
Luft. Hier wollte man gern der Nahsicht, der Einzelform, der Linie und der ruhigen, 
geschlossenen Beleuchtung ihr Recht lassen. Denn sobald die Maler die Grundsätze der 
Zmpressionsmalerei auf das Genre und das Porträt folgerichtig übertrugen, kamen 
diese in die ernsteste Gefahr von dem schnellgleitenden, vielfarbige Reflexlichter ver- 
teilenden Sonnenstrahl im innersten Wesen zerstört zu werden. Aus diesem Grunde traten 
damals tatsächlich Szenenmalereien von feinerem geistigen Gehalt, wie auch das Porträt 
zurück, oder man faßte das Bildnis als Momenteindruck auf, womit es natürlich eben- 
falls nicht unwesentlich seines Charakters beraubt wurde. Die neuzeitliche Malerei war 
also bei der Schilderung des Menschen und seiner Handlungen stark in das Gebiet des 
Abschreibers von Naturerscheinungen gekommen, da sie sich zu einseitig einer an sich hoch- 
künstlerischen Aufgabe hingegeben hatte. Aber Ubertreibungen dieser Art beweisen noch- 
keine grundsätzliche Verirrung oder eine Erkrankung. Wir brauchen nur etwas weiter 
umzuschauen, etwa die Literatur zu beachten, um von neuem die Gewißheit zu erhalten, 
daß die Malerei in ihrem Grundprinzip, stets und überall „Natur“ sein zu wollen, auf 
dem Boden ihrer wirklichkeitsfrohen Gegenwart stand. Auch die redenden und dar- 
stellenden Künste hatten die Absicht, sich von allen novellistischen Zutaten freizuhalten, 
unbefangen aus dem Motiv heraus das jeweilige Lebensereignis zu versinnbildlichen, 
wie etwa in den Aufführungen der „Freien Bühne“ zu Berlin (1891), wo das Leben 
und die Leiden der niedrigeren Volkskreise dargestellt wurden. Eine neue Art schau- 
spielerischer Darstellungsweise suchte ebenfalls den neuzeitlichen Anforderungen durch 
ein realistisches Spiel gerecht zu werden. Man begünstigte also auch hier nicht mehr 
den Kothurn, sondern eine naturalistische Richtung, die in der Wirklichkeitsschilderung 
ihre Wahrheit fand. Auch die angewandte Kunst, das Kunstgewerbe, begann unge- 
fähr gleichzeitig in den Bann einer werkmäßigen Logik zu treten. Genug, in ganz 
Deutschland, bei den jungen wie auch bei vielen älteren Künstlern beherrschte der 
Naturalismus, scharf ausgedrückt, die im großen und ganzen wahllose Schilderung 
der sichtbaren Welt. 
Fast in derselben Stunde, in welcher dieser Natu- 
ralismus in Deutschland Herrscher geworden war, 
setzte der Umschwung ein. Die Engländer (Whistler) und die Schotten sind die 
treibenden Kräfte geworden. Durch jene gelangten unsere Maler zu der „grauen“ 
Betonung des Innenlebens. 
  
1583
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.