Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
80 Deutsche Musik. XlI. Buch. 
  
getan hat, ist mehr als die glückliche Auswahl der Volkslieder. Er sieht den ganzen Stoff 
mit den Augen des musikalischen Dichters an und behandelt ihn demgemäß, so daß wirk- 
licher Märchenduft über der Oper liegt. Das Orchester ist sehr polpphon behandelt, 
es lebt und webt von motivischem Wesen, aber alles ist doch Aar und leicht faßlich: die 
Polpphonie tritt hier in ihrer größten Volkstümlichkeit auf und das Volkstümliche in 
seiner höchsten Verfeinerung. Manchmal gewinnt der Instrumentalpart wohl zu sehr 
die Oberhand und ist zu dick, wie in der Ouvertüre, die nicht recht zu dem anspruchs- 
losen Märchenspiel passen will und besonders in dem langen Nachspiel hinter dem Abend- 
gebet der Kinder, wo alle Schrecken der Blechbläser erbarmungslos auf den Zuhörer 
eindringen und das zarte Bild förmlich aus dem Nahmen brechen. Als Höhepunkt des 
Werkes ist mir immer die Waldszene vorher erschienen: die verirrten Kinder spielen 
erst sorglos und spotten dem Kuckuck nach, aber allmählich erfaßt sie die Angst und das 
Grauen vor der Einsamkeit. Hier ist die Naturstimmung mit wirklicher poetischer Kraft 
aufgefaßt und musikalisch verdichtet; es strömt wie ein Hauch von Waldesfrische und 
Wiesenduft aus den Tönen und legt sich dem Hörer lind um Herz und Sinne. 
Von einigen Kleinigkeiten, die Humperdinck nach diesem Erstling unter seinen Opern 
schrieb, kann abgesehen werden, auch von seiner „Heirat wider Willen“, die viele reiz- 
volle und feine Einzelheiten enthält, als ganzes aber keine große Wirkung ausgeübt hat, 
erst die „Königskinder“ (von Ernst Rosmer) verdienen wieder eine nähere Betrachtung. 
Ursprünglich war das Stück ein gesprochenes Drama mit eingestreuten melodramatischen 
Stellen und Musikstücken (1898), das der Komponist 1908 zu einer Oper umgearbeitet 
hat. Die Oichtung schlage ich nicht hoch an: sie ist ein Märchen, aber kein naives wie 
„Hänsel und Gretel“, sondern ein gebildetes, ein literarisches, und mit allerlei Anspie- 
lungen, Symbolen und Tiefsinnigkeiten durchsetzt, denen man aber doch nicht so recht 
auf den Grund zu kommen vermag. Um so mehr Werte birgt die Musik. Das Orchester 
Uingt wundervoll, es strotzt von Melodie, und aus dem höchst durchsichtigen Ganzen lösen 
sich oft einzelne Instrumente heraus, die irgendeine Szene wie mit farbigen Seidenfäden 
charakteristisch umspinnen. Will man Humperdincks Schaffen im allgemeinen kennzeichnen, 
so könnte man sagen, daß Liebenswürdigkeit sein hervorstechendster Zug sei, wobei man 
nur nicht die landläufige Bedeutung dieses Wortes sich vorstellen, sondern an Eigenschaften 
denken muß, die einen stillen, in sich gekehrten Künstler würdig machen, geliebt zu werden. 
L. Thuille. Eine Höchst reizvolle Oper, die gleichfalls einen Märchenstoff behandelt, 
— tritt uns in Ludwig Thuilles „Lobetanz“ entgegen (1898). Der leider 
sehr jung gestorbene hochbegabte Komponist hat ihm noch ein zweites Werk „Gugeline“ 
(1901) folgen lassen, das indessen die Vorzüge seines ersten nicht erreicht. „Lobetanz“ 
ist die Geschichte von der Prinzessin, die durch das süße Spiel eines Geigers vor Sehn- 
sucht erkrankt und an demselben Spiel vor Liebe wieder gesundet, eine Geschichte, die 
Otto Fulius Bierbaum leider in sehr gezierter Sprache und in etwas füßlicher Manier 
vorträgt. Der Musiker aber hat auf dieser Textgrundlage ein Meisterstücklein errichtet. 
Sein Ausdruck ist sehr gewählt, etwas gedämpft, die Arbeit überaus subtil, die Melodie-- 
erfindung wie der Wuchs des Ganzen mehr schmächtig als kraftvoll. Eine Szene aber ist 
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