XI. Buch. Deutsche Musik. 85
wirkt keinesfalls überzeugender, aber die „Sinfonia domestica“ (1904) kehrt wieder auf
den Standpunkt zurück, den Strauß bei der Abfassung seiner ersten spmphonischen Dich-
tungen einnahm, nur daß das Tongewirk hier um vieles dichter und schwerer faßlich ist.
Der symphonischen Dichtung haben sich nun eine große Anzahl von Tonsetzern
zugewandt. Sie zu nennen oder gar zu untersuchen, wie weit jedem sein Vorhaben
geglückt ist oder nicht, würde zwecklos sein, denn in diesen wenigen Blättern können
nur allgemeine Richtungen an typischen Beispielen aufgezeigt werden. In neuerer Zeit
bat die Beschäftigung mit der Programmmusik entschieden nachgelassen, selbst Künstler,
die sich ihr früher zugewendet hatten, kehren wieder zur Symphonie oder zum pro-
grammlosen, nur allgemein gekennzeichneten Instrumentalstück (Stimmungsbild) zurück.
M. Neger. Zu denen, die niemals an die Lehre von der Erschöpfung der
— Instrumentalmusik durch Beethoven geglaubt hatten, gehörte auch
Johannes Brahms, und in seiner Gefolgschaft befindet sich eine Reihe Künstler, die
ebenfalls der Anschauung huldigen, daß sich in jeder beliebigen Form immer wieder
Neues sagen lasse, sofern dem Komponisten nur Neues einfällt. Von Brahms ist auch
Max Reger ausgegangen, der jedoch ebenso starke Einwirkungen von Bach her
empfangen hat und sich allmählich eine eigene, etwas exzentrische musikalische Sprache
ausbildete, die in ruheloser Harmonik schwelgt und dem Ohr bisweilen das Außerste
an dissonanten Fortschreitungen zumutet. Das Schlimmste ist, daß man alle diese
Härten und Gewaltsamkeiten nicht als etwas Notwendiges empfindet, sondern als
Laune, Willkür oder Sorglosigkeit. Reger hat sich hauptsächlich auf dem Gebiet der
Kammermusik betätigt, hat aber auch, außer der Oper, ziemlich alle anderen Gat-
tungen gepflegt. Blickt man über dies Schaffen hin, so ist es schwer, einen Gesamt-
eindruck der Persönlichkeit des Komponisten zu gewinnen, denn er erscheint so un-
gleich, daß man Mühe hat zu glauben, zwei Stücke wie etwa die Serenade für Flöte,
Bioline und Bratsche (op. 77a) und die Sinfonietta (op. 90) seien Werke desselben Kom-
ponisten: die erste ist ebenso Uar#, durchsichtig und reizvoll im Klang wie die andere ver-
duollen, gliederungslos und mißglückt in der Instrumentierung. In Regers Liedern
findet sich neben Gelungenem vieles Uberreizte; häufig steht die M#usik kaum noch in
erkennbarem Zusammenhang mit der Dichtung, sie scheint unbekümmert eigene Pfade
zu wandeln. Kaum ein Stück von ihm gibt es, daß nicht irgendwo Beachtenswertes,
ja Bedeutendes brächte, kaum eins aber auch, das von Anfang bis zu Ende mit sicherem
Kunstgefühl durchgeführt wäre. Man hat oft den Eindruck, daß er komponiert, wie
ein Kurzsichtiger malen würde: immer nur mit dem Oetail beschäftigt, an dem er gerade
arbeitet, aber außer Stande, die Totalität des Bildes zu überschauen. Ein tief ver-
räterischer Zug für die Begabung Regers scheint es mir zu sein, daß er dort sein Bestes
gibt, wo er von außen her Stützen und Leitseile bekommt, etwa ein Thema zum Vari-
ieren, das sich an den Fazetten seines Geistes dann oft überraschend vielseitig bricht,
oder wo ganz strenge Formen, wie die Fuge, ihm Maß und Siel geben. Es gibt Fugen
von ihm, wie sie vielleicht kein zweiter lebender Komponist zu schreiben vermag, in freien
Formen verliert sich seine Fantasie jedoch oft ins Gestaltlose und Unanschauliche.
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