XII. Buch. Das öffentliche Leben. 19
er von der Schaubühne als von seiner Rednerbühne herab gepredigt, sondern seine auf
Tatsachen beruhenden Anklagen, seine das Volk zum Höchsten emporreißenden Forde-
rungen hat er von ihr aus mit dem ganzen Pathos und dem ganzen Feuerstrom seiner
Beredsamkeit unter die Besucher seiner Stücke geworfen. Und wieder — nur weit schwächer
und mit hohlerer Rhetorik, aber doch nicht ohne große Wirkung als Vorbereitung auf die
Kevolution von 1848, hat das junge Deutschland das Theater tendenziös genommen; und
noch einmal haben dann in den achtziger und neunziger Jahren unsere naturalistischen Dra-
matiker die neuen sozialen und sozialistischen Gedanken auf der Bühne vor den aufhorchen-
den Zuschauern aussprechen lassen und sie so populär gemacht. Durch die ganz unsoziale
Verteuerung unserer Theater ist diese ihre große Mission heute fast gar unterbunden:
häufiger Besuch ist nur noch für die oberen Zehntausend möglich, für die Massen aber ist
an seine Stelle der Kino getreten mit seinen einstweilen noch tendenzlosen, aber um so
geschmackloseren und sensationelleren Vorführungen und seinem skrupellosen Spekulieren
auf die schlechtesten Instinkte des Volks. So ist das Theater heute viel einflußloser als
vor 120 und vor 60 und noch vor 25 Jahren; und das Schlagwort Dart pour Fart ist nur
ein schlechtes Mäntelchen, das man dieser Bedeutungslosigkeit als entschuldigende Hülle
umgehängt hat; als ob von schwächlichen Istheten für schwächliche ÄAstheten große und
starke Kunst gemacht werden und große und starke Wirkungen ausgehen könnten. Auch
das kläglich mißlungene Festspiel in Breslau hat gezeigt, wie fern und wie verständnielos
unsere Theaterdichter von heute dem Volksempfinden gegenüberstehen und wie die Be-
deutung ihrer Stücke für das öffentliche Leben nur noch die negative der Ablehnung
und des Protestes gegen die Ablehnung ist, und wie auch das wieder in den Oienst der
Parteien herabgezerrt und zu Parteizwecken mißbraucht wird.
So ist es nicht das Drama und die Bühne, ist auch nicht, wie in
den Befreiungskriegen oder in den dreißiger und vierziger Fahren, un-
sere vielfach nur in inhaltsleerem Wortgeklingel schwelgende Lprik, sondern der Roman,
der heute am ehesten noch Wirkung auf weite Kreise und Schichten ausübt und so zu
einem Organ des öffentlichen Lebens wird und werden kann. Patriotische und kriege-
rische, pazifistische und feminine, soziale und individualistische, freiheitliche und kon-
servative, kirchlich konfessionelle und freigeistige Gedanken und Sdeen werden im Roman
bald in ausgesprochener Tendenz, bald mehr unbewußt und unwillkürlich niedergelegt,
und mancher hat sich hier seine Ideale und seine politischen oder religiösen oder philo-
sophischen Anschauungen geholt. „Sch lese keinen Roman!“ heißt daher vielfach nichts
anderes als: ich verzichte darauf, ein wichtiges Stück dessen, was unter uns lebt und
wirkt, kennen zu lernen und davon Notiz zu nehmen, oder gar: ich interessiere mich für
alle diese Fragen überhaupt nicht. Gerade das, was wir zu Anfang vergeblich gesucht
haben, „die Sitte“ unseres Volkes, tritt in diesen Produkten der schönen Literatur,
nicht immer vollständig und von ihrer bester Seite, aber gerade in ihrer Unabsichtlich-
keit am unverfälschtesten und treuesten zutage. Oie geistigen und sozialen Strömungen
unseres deutschen Lebens spiegeln sich am Ende doch hier alle wider, und die Kunst
besteht nur darin, sie aus ihrer dichterischen Einkleidung nicht nur, sondern auch aus
Der Roman.
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