Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
20 Das öffentliche Leden. XIl. Buch. 
  
dem Stimmengewirr der vielen, die hier zu Worte kommen, herauszulösen und heraus- 
zuhören. 
Konkreter und tatsächlicher, praktischer und robuster als in seiner 
Literatur, aber nicht weniger bunt und mannigfaltig pul- 
siert das Leben unseres Volkes in seinen Vereinen. Einem oder mehreren unter 
den tausend und abertausend Vereinen, oft sogar mehreren, als uns lieb ist, gehört jeder 
von uns an. Manche von ihnen sind ja nun rein privater Natur und scheinbar ohne alle Be- 
deutung für das öffentliche Leben, ein Kegelklub z. B. und überhaupt die meisten der bloß 
der geselligen Unterhaltung und dem Vergnügen dienenden Bereine; und doch können auch 
sie als Ausdruck des öffentlichen Lebens angesehen werden, sofern und soweit sich ein Stück 
der Volkssitte in ihnen abspiegelt, z. B. im Kegelklub die Art, wie sich der Philister und Spieß- 
bürger abende mit seinesgleichen zu vergnügen pflegt; und wenn die ganze Geselligkeit eines 
Volkes oder doch weiter Kreise desselben allzu spießbürgerlich und pbilisterhaft wird, so 
wird die Masse solcher Kegelklubs und die Wichtigkeit, die sie sich und ihren Vereinigungen 
zu Verbänden, zu Bannerweihen und Wettkegeln beilegen, sogar ein betrübendes Zeichen 
des Aliedergangs und des Schwindens allgemeiner höherer Interessen, Ausdruck einer 
allzu großen Selbstgenügsamkeit und einer bedenklichen nationalen Verengung und gei- 
stigen Berödung werden können. Gerade weil wir heute, hinausgerissen in das Welt- 
getriebe und in den flutenden Strom des Wettbewerbs der Völker um die Güter dieser 
Erde, von dieser philisterhaften Genügsamkeit und Enge im ganzen erfreulich weit 
entfernt sind, wähle ich dieses Beispiel, das vielleicht auf unserer Großväter Zeit mehr 
zutraf, aber für uns und unsere Art doch noch nicht ganz aufgehört hat, bezeichnend 
zu sein. 
Wohl aber läßt sich ein anderes sagen. Der Deutsche ist von Haus aus stark 
individualistisch. Dem scheint diese Reigung, sich in Vereinen zusammenzutun, 
zu widersprechen, da in ihnen mehr der Herdentiertrieb als diese individualistische 
Aeigung zur Verwirklichung kommt. Allein der Individualismus schließt den Hang 
und die Vorliebe für freie gesellige Bereinigung nicht aus. Schleiermacher, der 
Verfasser der ganz individualistischen Monologen, ist schon zur Zeit, da er sie schrieb, 
der große VBirtuose der Geselligkeit gewesen und hat es nicht für einen Widerspruch 
gehalten, in ihnen das hohe Lied auf die schöne Gemeinschaft der Freundesliebe 
anzustimmen; und später vollends, in der Ethik, bildet ihm die freie Geselligkeit den 
Schlußstein seiner Lehre vom höchsten Gut. Gerade in der Vereinsbildung und ihrer 
nur allzu üppig ins Kraut schießenden Buntheit und Mannigfaltigkeit zeigt sich vielmehr 
das Individualistische der Wahlverwandtschaft und der Freiheit beim Eingehen solcher 
Verbindungen und beim Anschluß an bestehende Gemeinschaften nach eigener Willkür 
und Wahl. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, der Staat, der mich und mein 
Leben von Geburt an umschließt und bis zum Grabe nicht losläßt, auch die Kirche, 
der ich als unmündiges Kind von meinen Eltern einverleibt wurde, wie sie ihr ohne Frei- 
heit und Wahl von ihren ersten Lebenstagen an angehört haben, das sind mehr oder 
weniger naturhafte Gebilde menschlichen Zusammenschlusses, denen gegenüber ich nicht 
Vereinsleben. 
  
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