Full text: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft. Neunter Band. Jahrgang 1853. (9)

356 Betrachtungen 
einer kirchlichen Armenpflege kann nur da anerkannt werden, 
wo die Kirche durch die milden Gaben ihrer Mitglieder eben 
religiösem Eifer hervorgegangener Vereine können wir die Bestrebungen, 
welche als Früchte der innern Mission hier in Berlin hervorgetreten 
sind, nicht erachten. Der Bericht des Parochial-Vereines für die innere 
Mission in der St. Matthäus-Gemeinde (Berlin 1851) gibt — abgesehen von 
der stets wohlthuenden Thatsache eines in vielen Gemüthern noch leben- 
digen menschenfreundlichen und religiösen Eifers — ein sehr betrübendes 
Bild von dem Missverhältniss zwischen der Tiefe und dem schreckenerre- 
genden Umfang der Uebel, an denen wir kranken und der Geringfügigkeit 
der (menschlichen und sichtbaren) Mittel, welche zu ihrer Bekämpfung bereit 
stehen. Es heisst in der Vorrede sehr wahr: "„die verschiedenen Stände 
„sind wider einander, anstatt mit einander zu gehen und für einander zu 
„stehen. Es ist eine Kluft zwischen ihnen, die täglich weiter reisst, wenn 
„sie auch auf Zeit durch äussere Ordnung und Gesetzlichkeit verdeckt wird, 
„Sie sind in zwei Heerlager gespalten, das eine zuweilen misstrauisch her- 
„überblickend, aber nur zu leicht in der düstern Ruhe, die drüben liegt, und 
„ın den Zerstreuungen des Tages die Gefahr vergessend, das andre grollend 
„abwartend, auch leicht zerstreut, aber unversöhnt. Die materielle Macht 
„kann die Ausbrüche des Grolles zurückdrängen oder wieder dämpfen. Es 
„ist damit Zeit gewonnen, uber weiter nichts; es ist Zeit gewonnen, um an 
„der Versöhnung, an der Herstellung des gesunden Zustandes zu arbeiten; 
„aber wenn diese unbenützt vorübergeht, so wird der letzte Betrug ärger 
„denn der erste“ u. s. w. 
Ein wichtiges Mittel zur Ausfüllung dieser Kluft und Anbahnung der 
Versöhnung wurde mit Recht in der Herstellung eines persönlichen Ver- 
kehres zwischen den Wohlhabenden und Armen, in der Verbindung der Seel- 
sorge und Sorge für Abhilfe der leiblichen Noth erblickt. Doch blieb der 
Verein zur Wahrnehmung dieser Aufgabe auf die Kräfte eines einzigen, zu 
diesem Zwecke besonders berufenen Diakonen beschränkt. Die. Hoffnung, 
dass aus der Mitte des Vereines oder sonst aus der Gemeinde sich Helfer 
finden würden, um den Diakon zu unterstützen und ausdauernd mitzuarbeiten, 
blieb unerfüllt. So konnten verhältnissmässig nur Wenige der Hilfsbedürf- 
tigen mit dem Diakonen in naher Verbindung bleiben; die Mehrzahl war 
seiner Pflege Monate lang entzogen und wurde nur hier und da von ihr 
berührt. (Vergl. am angef. Orte S. 9.) 
Dass unter solchen Umständen das erwünschte Ziel einer wahrhaft 
kirchlichen Armenpflege nicht erreicht werden konnte, erkannte der Verein 
selbst auf das Lebhafteste, setzte sein Vertrauen indess in die Zukunft. Ohne 
Zweifel sollen wir ung durch verfehlte Versuche und vergebliche Bemühungen 
nicht abschrecken lassen. Denn nur wer da suchet wird finden. Indess 
dürfen wir auch die Lehren, welche aus. dem Scheitern unserer Hoffnungen 
zu entnehmen sind, nicht unbeachtet lassen , sonst wälzen wir des Sisyphus 
Btein.
	        
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