über Armenpflege und Heimathsrecht. 357
sowohl die Mittel zur Unterstützung der Hilfsbedürftigen beschafft,
als auch die Organe zur Verwendung derselben selbstständig aus
dem Laienstande gewinnt und herausbildet. Es versteht sich
dabei von selbst, dass die Uebung der Mildthätigkeit mit der seel-
sorgerischen Behandlung der Hilfsbedürfiigen Hand in Hand gehen,
und durch die letztere der Gefahr vorgebeugt werden muss,
welche aus blosser Nachsicht und Almosenspendung sonst unver-
meidlich hervorgeht.
Wo die Kirche die Kraft nicht mehr hat, um sowohl die
äusseren Mittel als auch die geistigen Kräfte zu gewinnen, deren
sie zur Erfüllung ihrer Pflichten gegen die Armen bedarf, wird
diess ein unabweisliches Zeichen sein, dass ihren Händen der
Stab entfallen ist, durch welchen Moses dem Felsen Wasser
entlockte. Doch müssen wir es der Kirche selbst anheimstellen,
dieses Zeichen, wie zu erkennen, so auch zu deuten.
Die zweite Bemerkung, welche wir zu machen haben, ist
diese: auch wenn die Kirche nicht im Stande sein sollte, die
ihr anheimfallende Aufgabe genügend zu lösen, wird durch die
Aufhebung der gesetzlichen Armenpflege in der Mehrzahl der
Gemeinden eine Veränderung des bestehenden Zustandes praktisch
kaum herbeigeführt werden. Denn auf dem Lande hat in den
östlichen Provinzen, wie oben ausführlicher dargelhan wurde,
die Armenpflege trotz der Gesetze faklisch überwiegend den
Charakter der Privatmildthätigkeit behalten. In den Städten wird
dagegen mit der Einrichtung von Krankenkassen alsbald vorge-
schritten und auf die Betheiligung an den Sparkassen gedrungen
werden können, und hierin — da die Sorge für Wittwen und
Waisen den Gemeinden verbleiben soll — ein theilweiser Ersatz
für die wegfallende gesetzliche Armenpflege mindestens insoweit
zu finden sein, um keiner augenblicklichen Besorgniss Raum
geben zu müssen. Im Uebrigen soll der Staat sich darüber nicht
täuschen wollen, wie sehr auch er darunter zu leiden hat, wenn
die Kirche zu kraftlos geworden ist, um einer ihr unzweifelhaft
obliegenden hochwichtigen Aufgabe genügen zu können.