70 Betrachtungen
einen oft unausführbaren Zwang zu versuchen und bestehende
Verhältnisse plötzlich zu erschüttern, würde die gesetzliche
Pflicht der Unterstützung von Armen in Krankheitsfällen fortan
nicht mehr dem Geburts- oder Heimathsort, sondern dem
Aufenthaltsorte zu überlragen sein. Eine solche Bestimmung
würde sich, auch ganz abgesehen von dem hier damit beabsichtigten
Zweck, schon aus ganz allgemeinen Gründen rechlfertigen. Der
Aufenthaltsort ist in der Regel auch derjenige, welcher
von den Leistungen des Arbeiters den Vortheil hat. Die reellen
Beziehungen zwischen dem Arbeiter und seinem Geburis- oder
Heimathsort sind fast immer gelöst, wenn er sich (einige Zeit)
an einem andern Orte aufhält, und dort Beschäfligung gefunden
hat. Nur der Aufenthaltsort hat Mittel, den Lohnherrn zur
Uebertragung des Krankheitsfalles heranzuziehen. So weit die
Rücksicht auf den Nutzen seiner Leistungen für den Auf-
enthaltsort keinen Grund abgeben kann, dem Arbeiter Hilfe
zu gewähren, wird sich ein solcher Vortheil noch schwerer für
einen andern Ort nachweisen lassen. Die gesetzliche Verpflichtung
zur Unterstülzung beruht dann vorzüglich darauf, dass der Staat
es übernommen hat, zur Erfüllung einer Religionspflicht anzuhalten.
Die Uebung dieser Pflicht fällt indess am natürlichsten dem zu,
der die Hilfsbedürftigkeit allein wahrnehmen, richtig beurtheilen,
rechtzeitig und mit den mindesten Kosten gewähren kann.
Von dieser Ansicht aus ist in England, woselbst das System
der gesetzlichen Armenpflege seine vollständige Entwickelung
gefunden hat, schon gegenwärtig vorzüglich der Aufenthaltsort
zur Gewährung von Unterstülzung — weit über den Fall einer
Krankheit hinaus — verpflichtet. Der Anspruch des Aufenthalts-
ortes gegen den Heimathsort, die Armenpflege zu über-
nehmen, beschränkt sich fast allein auf den Fall einer dauernden
Arbeitsunfähigkeit. Um so weniger wird ein begründetes Be-
denken dagegen erhoben werden können, den Aufenthaltsort zur
Krankenpflege zu verpflichten, wenn man ihm gleichzeitig die
Befugniss erlheilt, diese Last durch Einrichtung einer Kranken-
kasse — zu deren Unterhaltung er die Arbeiter selbst, so wie
deren Lohnherrn anhalten kann — der Hauptsache nach von
seinen Schultern zu wälzen.