Full text: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft. Neunter Band. Jahrgang 1853. (9)

70 Betrachtungen 
einen oft unausführbaren Zwang zu versuchen und bestehende 
Verhältnisse plötzlich zu erschüttern, würde die gesetzliche 
Pflicht der Unterstützung von Armen in Krankheitsfällen fortan 
nicht mehr dem Geburts- oder Heimathsort, sondern dem 
Aufenthaltsorte zu überlragen sein. Eine solche Bestimmung 
würde sich, auch ganz abgesehen von dem hier damit beabsichtigten 
Zweck, schon aus ganz allgemeinen Gründen rechlfertigen. Der 
Aufenthaltsort ist in der Regel auch derjenige, welcher 
von den Leistungen des Arbeiters den Vortheil hat. Die reellen 
Beziehungen zwischen dem Arbeiter und seinem Geburis- oder 
Heimathsort sind fast immer gelöst, wenn er sich (einige Zeit) 
an einem andern Orte aufhält, und dort Beschäfligung gefunden 
hat. Nur der Aufenthaltsort hat Mittel, den Lohnherrn zur 
Uebertragung des Krankheitsfalles heranzuziehen. So weit die 
Rücksicht auf den Nutzen seiner Leistungen für den Auf- 
enthaltsort keinen Grund abgeben kann, dem Arbeiter Hilfe 
zu gewähren, wird sich ein solcher Vortheil noch schwerer für 
einen andern Ort nachweisen lassen. Die gesetzliche Verpflichtung 
zur Unterstülzung beruht dann vorzüglich darauf, dass der Staat 
es übernommen hat, zur Erfüllung einer Religionspflicht anzuhalten. 
Die Uebung dieser Pflicht fällt indess am natürlichsten dem zu, 
der die Hilfsbedürftigkeit allein wahrnehmen, richtig beurtheilen, 
rechtzeitig und mit den mindesten Kosten gewähren kann. 
Von dieser Ansicht aus ist in England, woselbst das System 
der gesetzlichen Armenpflege seine vollständige Entwickelung 
gefunden hat, schon gegenwärtig vorzüglich der Aufenthaltsort 
zur Gewährung von Unterstülzung — weit über den Fall einer 
Krankheit hinaus — verpflichtet. Der Anspruch des Aufenthalts- 
ortes gegen den Heimathsort, die Armenpflege zu über- 
nehmen, beschränkt sich fast allein auf den Fall einer dauernden 
Arbeitsunfähigkeit. Um so weniger wird ein begründetes Be- 
denken dagegen erhoben werden können, den Aufenthaltsort zur 
Krankenpflege zu verpflichten, wenn man ihm gleichzeitig die 
Befugniss erlheilt, diese Last durch Einrichtung einer Kranken- 
kasse — zu deren Unterhaltung er die Arbeiter selbst, so wie 
deren Lohnherrn anhalten kann — der Hauptsache nach von 
seinen Schultern zu wälzen.
	        
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