Full text: Die Verfassung und Verwaltung im Deutschen Reiche und Preußen. Zweiter Band. Preußen. (2)

8 6. Die Staatsbürger. 29 
Vormundschaftsordnung vom b. Juli 1875 bei der Wahl des Vor— 
mundes auf die Religion des Mündels Rücksicht genommen werden. 
Nach 8 618 BGB. soll ferner der Dienstberechtigte auf die Religion 
des Dienstverpflichteten Rücksicht nehmen. Die Zugehörigkeit zu einer 
bestimmten Religion kann Bedingung einer Zuwendung oder einer 
Sukzessionsordnung (Fideikommiß, Lehn) sein. Allerdings darf die 
Bedingung nicht eine Beschränkung der Gewissensfreiheit darstellen, in 
diesem Falle wäre sie als unsittlich zu behandeln und deshalb nichtig. 
Aufrecht erhalten bleiben endlich Privatrechte, die von einer Zugehörigkeit 
zu einer bestimmten Konfession abhängen z. B. Patronatsrechte, Recht 
auf Erbbegräbnisse, Kirchenstühle und dergl. 
7. Das Recht der freien Meinungsäußerung. Hierüber 
bestimmt Art. 27 Vul.: Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, 
Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. 
Die Zensur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der 
Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung. In Verbindung hiermit 
steht der weitere Grundsatz, daß eine Beschränkung der Lehrfreiheit 
und der freien wissenschaftlichen Forschung nicht stattfindet. Die 
Wissenschaft und ihre Lehre ist frei (Art. 20 Vu.). Nicht hiermit in 
Zusammenhang steht die Frage, ob die öffentliche Verkündung gewisser 
Lehren sich mit der Beibehaltung eines Amtes, Lehrstuhles und 
dergl. verträgt. 
Das Preßwesen ist jetzt auf Grund des Art. 4 Nr. 6 der Reichs- 
verfassung durch RE. über die Presse vom 7. Mai 1874 (RGBl. 
S. 65) geregelt. (Vgl. Bd. 1 dieses Werkes § 125 S. 376 ff.) 
8. Freies Versammlungs= und Vereinsrecht. 
Während das preußische ALR. II, 6 88 1 ff. und ihm folgend der 
Bundesratsbeschluß vom 5. Juli 1831 (GS. S. 110) die freie 
Vereinsbildung nach Möglichkeit zurückdrängten, eindämmten und 
staatlicher Aufsicht unterstellten, steht die preußische Verfassungsurkunde 
grundsätzlich auf dem Standpunkt der freien Vereinsbildung. Alle 
Preußen sind nach Art. 29 Vl. berechtigt, sich ohne vorgängige 
obrigkeitliche Erlaubnis friedlich und ohne Waffen in geschlossenen 
Räumen zu versammeln, jedoch nicht unter freiem Himmel. Alle 
Preußen haben ferner das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den 
Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen 
(Art. 30 Vl.). 
Zwecks Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung 
gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs= und Vereinigungerechts 
ist die mit Gesetzeskraft erlassene Verordnung vom 11. März 1850 
(GS. S. 277) erlassen. Nach dieser Verordnung hat von allen Ver- 
sammlungen, in welchen öffentliche d. h. die Gesamtheit des Gemein- 
wesens und das gesamte öffentliche Interesse (politische, soziale, kirch- 
liche und religiöse Fragen) berührende Angelegenheiten erörtert oder 
beraten werden sollen, der Unternehmer mindestens 24 Stunden vor 
dem Beginne der Versammlung unter Angabe des Ortes und der Zeit 
derselben Anzeige bei der Ortspolizeibehörde zu machen. Diese Behörde 
hat darüber sofort eine Bescheinigung zu erteilen (§ 1 der Verordn.). 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.