Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiter Jahrgang. 1861. (2)

326 Uebersicht der Ertignisse des Zahres 1861. 
Leben. General Borjès verließ zu Anfang Dezember die Basilicata 
und versuchte sich mit einigen Begleitern nach der römischen Gränze durch- 
zuschlagen; fast hatte er schon das Ziel erreicht, als er den Piemontesen 
in die Hände siel, die ihn sofort kriegsrechtlich erschießen ließen. Dasselbe 
Schicksal erreichte den Marquis de Trazigny, einen jungen Belgier, der 
mit der Bande Chiavones in den Abruzzen für die Sache des Royalis= 
mus hatte kämpfen wollen. Noch einige wenige Namen ausländischer 
Parteigänger des Royalismus sind außer diesen bekannt geworden. Die 
neapolitanische Emigration dagegen hielt sich fern und begnügte sich von 
Rom aus durch das gemeine Volk den Umschwung vorzubereiten, den sie 
von einem Umschlag der europäischen Politik erwartete. 
Es ist natürlich, daß die Stellung der ital. Regierung gegenüber 
Rom auch von dieser Seite her immer unerträglicher und das Verlangen 
der Italiener, die römische Frage endlich zur Lösung zu bringen, eine 
immer dringendere wurde. Ricasoli betrachtete es als seine hauptsächlichste 
Aufgabe, dieses Ziel zu erreichen und, den Fußstapfen Eavours folgend, 
entschloß er sich, den Weg einer directen Verständigung mit dem h. Vater 
zu versuchen und den Gedanken seines Vorgängers von einer freien Kirche 
im freien Staat als förmliche Punctation zur Grundlage einer möglichen 
Transaction zu machen. Odbgleich sein Versuch ohne allen und jeden Er- 
folg blieb, so bildet er doch in dem großen Drama, das sich vor unseren 
Augen entwickelt und das ohne allen Zweifel, wie lange es auch noch an- 
stehen sollte, welche Zwischenfälle auch noch eintreten können und unter 
welchen Modalitäten es auch erfolgen mag, mit dem Ende der weltlichen 
Herrschaft des Papstes enden wird, ein bedeutungsvolles Moment. Ricasoli's 
Entwurf einer Vereinbarung zwischen Italien und dem Papste suchte die- 
sem persönlich eine möglichst unabhäugige, souveräne Stellung zu wahren, 
wollte dem h. Stuhle eine mit den übrigen kath. Mächten zu rerein- 
barende sire und unantastbare Dotation gewähren und stellte dem Papste 
in seinem Verkehr wit den Bischöfen, den Bischöfen in ihren Diöcesen, 
den Pfarrern in ihren Pfarreien gegenüber der Staatsgewall eine Unab- 
hängigkeit in Aussicht, wie sie in keinem undern kath. Staate der Welt 
besteht — gegen Aufgabe der weltlichen Herrschaft. Er begleitete denselben 
mit rinem eindringlichen Schreiben an den h. Vater und wünschte ihn 
durch die Vermittlung der franz. Regierung an den h. Stuhl gelangen zu 
lassen. Allein zwei Monate später, am 20. Nov., mußte er dem Parla- 
wente gestehen, daß seine Vorschläge dem Papste nicht einmal vorgelegt 
worden seien, da Frankreich die Uebermittlung derselben verweigert habe.
	        
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